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Neue Zürcher Zeitung

Sieger ohne Triumph in Ungarn

A. O. (Budapest)

Die Parlamentswahlen in Ungarn haben einen klaren Entscheid gebracht: Die Regierungsmacht wechselt von der Rechten zu den Linken. Der Wahlkampf war zwar an Aufregung und Tiefschlägen reich, der Urnengang ging aber ruhig vor sich, und die Beteiligung erreichte eine Rekordhöhe; die rechts- und linksextremen kleinen Formationen schieden am ersten Wahltag aus; der Verlierer, der bisherige Ministerpräsident, akzeptierte die Niederlage und gratulierte seinem sozialistischen Herausforderer. Ungarns junge Demokratie hat sich bewährt.

Der Wahlausgang, auch dies ein Ertrag der festen demokratischen Ordnung, hat auf die gegenwärtig wichtigste Zielsetzung des Landes keinerlei Auswirkung. Die Chancen auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union bleiben intakt. Vom Endergebnis her ist es gleichgültig, ob eine Regierung der Rechten oder der Linken die Verhandlungen in Brüssel zu Ende führt und zuletzt unter Anspruch auf Lorbeeren behaupten kann, sie habe Ungarn in die EU geführt.

Im Übrigen aber nimmt sich das am Sonntag zustande gekommene Wahlresultat seltsam aus. Denn der Urnengang kennt wohl Sieger und Verlierer, doch weder auf der einen noch auf der anderen Seite besteht allzu viel Grund zu Triumph. Die Sozialisten werden zwar den Ministerpräsidenten stellen und die nächste Regierung beherrschen, sind dazu aber nur dank dem kleinen Bund der Freien Demokraten imstande, da es ihnen nicht gelungen ist, die Rechte allein zu besiegen. Die Freien Demokraten ihrerseits sind als Zünglein an der Waage in einer Position der Stärke - paradoxerweise, da sie das schwächste Ergebnis ihrer Geschichte erzielt haben. Auf der entgegengesetzten Seite können die Jungdemokraten (Fidesz) und das mit ihnen verbündete kleine Demokratische Forum darauf pochen, dass sie auf ehrenvolle Art sogar die stärkste parlamentarische Kraft bleiben, sie müssen aber bis auf weiteres von der Macht Abschied nehmen.

Gegner von Ministerpräsident Orban sagten in den letzten Monaten oft, Ungarns Wirtschaft befinde sich in guter Verfassung und es sei ein Zeugnis des Versagens, wenn sich die regierende Partei in einer solchen Zeit des Aufschwungs bei Parlamentswahlen nicht mühelos durchsetze. Das Argument, selbst in saturierten westlichen Ländern nur bedingt verwendbar, hat in Ostmitteleuropa keine Gültigkeit. Die vom Einparteistaat zurückgelassene Misere wird in dieser Region noch lange spürbar, das Nachholbedürfnis verbreitet und übermächtig bleiben. Die Niederlage des Fidesz hat vor allem einmal die Unzufriedenheit all jener zur Ursache, die bisher zu kurz gekommen sind und die - auch ein Erbe des Kommunismus - alles von der Regierung erwarten.

Die einzige Ursache ist dies allerdings nicht. Orban und seine Parteifreunde erhalten nun einige Jahre Zeit, um darüber nachzudenken, inwiefern ihr Stil, ihre Radikalität und Angriffigkeit Teile des Wahlvolks abgestossen haben. Der von den Jungdemokraten vier Jahre lang geführte Kleinkrieg gegen den freidemokratischen Bürgermeister von Budapest entfremdete ihnen die Hauptstadt, die zuletzt wahlentscheidend gegen die Regierungspartei stimmte. Der Fidesz, Bürgerpartei genannt, kam nie auf die Idee, auch den Arbeiter anzusprechen und ihm eine bürgerliche Lebensperspektive zu bieten. Sein Versuch, die Zivilgesellschaft zu beherrschen, erzürnte dagegen die nach Autonomie rufenden Geister, und eine künstliche Aufgeregtheit, welche die Politik Tag für Tag zum öffentlichen Ereignis machte, schuf zuletzt mehr Ärger als Zuwendung.

Zur Bilanz gehört indessen auch, dass rund die Hälfte des Wahlvolks die Leistungen der Regierung Orban mit ihrem Stimmzettel honoriert hat. Die Jungdemokraten besitzen einen gewaltigen Anhang und werden die stärkste Opposition sein, die seit 1990 je im Parlament sass. Die Mehrheit der von den Freien Demokraten abhängigen Sozialisten ist dünn, aber zum Regieren ausreichend. Viel für den inneren Frieden wird nun davon abhängen, wie ernst die von sozialdemokratischem Geist wenig angehauchten Sieger der Parole ihres künftigen Ministerpräsidenten Medgyessy folgen, wonach es keine Revanche, keine Hexenjagden geben wird. Das Gegenteil, zu dem unter den Sozialisten manche neigen, wäre fatal. Es würde dem Land, das sich nach Ruhe sehnt, weitere Jahre der Wahlkampfstimmung bescheren.


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Neue Zürcher Zeitung

Dünne Mehrheit der Linken in Ungarn

Sozialisten und Freie Demokraten als Wahlsieger

Nach einem knappen Sieg der Sozialisten und der Freien Demokraten in den Parlamentswahlen kommt es in Ungarn zum Machtwechsel. Die unterlegenen Jungdemokraten und das mit ihnen verbundene Demokratische Forum bleiben im Parlament die stärkste Kraft. Der Vorsprung der Linken beträgt lediglich zehn Mandate.

A. O. Budapest, 22. April

Die Parlamentswahlen in Ungarn, deren zweite Runde am Sonntag abgehalten wurde, haben den Sieg der Sozialistischen Partei (MSZP) und des linksliberalen Bunds der Freien Demokraten (SZDSZ) gebracht. Nach den vorläufigen Endergebnissen gewannen die Sozialisten 178 der 386 Mandate, während die Freien Demokraten 20 Abgeordnete stellen. Die regierenden Jungdemokraten (Fidesz), eine Partei der rechten Mitte, die mit dem Demokratischen Forum zusammen aufgetreten war, erhielten 188 Mandate. Damit ergab sich die sonderbare Lage, dass das bisherige Regierungslager zwar am stärksten bleibt, die andere Seite aber 10 Mandate mehr aufweist und darum das nächste Kabinett bilden wird.

Orban anerkennt die Niederlage

Der Vorsitzende der Freien Demokraten, Kuncze, machte in der Wahlnacht abermals klar, dass seine kleine Partei, das Zünglein an der Waage, sich die Ablösung der Regierung Orban zum Ziel gesetzt hat und dass sie sich darum eine Koalition nur mit den Sozialisten vorstellen kann. Kuncze, ebenso wie die Vorsitzende des Demokratischen Forums, Justizministerin David, sprachen sich nach Abschluss der Auszählung dafür aus, die scharfe Auseinandersetzung der Wahlkampagne nun als abgeschlossen zu betrachten und auf Versöhnung der in zwei Lager zerfallenen Gesellschaft bedacht zu sein. Ähnlich äusserte sich Peter Medgyessy, der Kandidat der Sozialisten für das Amt des Ministerpräsidenten. Bei den Jungdemokraten zögerte der Parteipräsident Pokorni zunächst, das Endergebnis hinzunehmen, bis dann Ministerpräsident Orban klaren Wein einschenkte. Er teilte den Tausenden von vorab jugendlichen Anhängern, die ihn frenetisch feierten, nüchtern mit, dass er Medgyessy gratuliert habe und dass der Fidesz für die von ihm verteidigten Werte künftig in der Opposition einstehen werde.

Der Fidesz hatte in der zweiten Wahlrunde beträchtlich aufgeholt, ohne den Rückstand aus dem ersten Wahlgang ganz wettmachen zu können. Eine kleine Unsicherheit schufen in einer Anzahl von Wahlkreisen sehr knappe, teilweise mit einer Differenz von einigen wenigen Stimmen zustande gekommene Ergebnisse, die nach Neuzählungen riefen. Bis am Montagnachmittag wurden keine Änderungen bekannt, und es ist auch nicht anzunehmen, dass der eine oder andere allfällige Wechsel die Reihenfolge der Parteien in Frage stellen kann.

Nicht entschieden war am Montag, ob das kleine Demokratische Forum (MDF) im Parlament eine eigene Fraktion zu gründen gedenkt oder mit dem Fidesz zusammen auftritt. Frau David nannte es am Montag als Vorsitzende sehr wahrscheinlich, dass das MDF eher seine Fraktion haben will. Dem Entscheid kommt im Augenblick theoretische Bedeutung zu: Sofern Fidesz und MDF im Parlament eine gemeinsame Gruppe bilden, besitzen sie mit 188 Mandaten die grösste Fraktion. Dies wiederum könnte Staatspräsident Madl dazu veranlassen, den Auftrag zur Regierungsbildung an Orban als den Kandidaten des Fidesz zu geben. Treten aber Fidesz und MDF im Parlament getrennt auf, dann gehört die stärkste Fraktion den Sozialisten.

Nur eine Koalition denkbar

Die Erteilung des Auftrags an Orban wäre allerdings so oder so ein aussichtsloses Unterfangen, und es ist nicht anzunehmen, dass der Präsident die Regierungsbildung verzögern will. Darüber, dass nur eine Koalition denkbar ist, liessen am Montag Medgyessy, Kovacs, der Präsident der Sozialisten, sowie von Seiten der Freien Demokraten Kuncze in einem Brief an das Staatsoberhaupt keinen Zweifel; sie teilten ihm mit, dass keine der beiden Parteien mit dem Fidesz zu verhandeln gedenkt. Kuncze bestätigte mittlerweile, dass das offizielle Angebot der Sozialisten, mit dem SZDSZ Gespräche über eine gemeinsame Regierung zu beginnen, bei der Partei eingetroffen ist. Er schätzte, dass die Verhandlungen länger als vier Wochen in Anspruch nehmen werden und dass das neue Kabinett in sechs bis sieben Wochen ins Amt treten könnte.

Wie viel die Freien Demokraten im Vorfeld der Regierungsbildung von den Sozialisten fordern werden, ist eine der Hauptfragen der nächsten Zeit. Die kleine Partei, die mit 5,5 Prozent der Stimmen die parlamentarische Schwelle gerade geschafft hat, kann nun diktieren, dürfte aber nicht daran interessiert sein, die Zusammenarbeit in der künftigen Koalition durch Masslosigkeit von vornherein zu belasten.


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Neue Zürcher Zeitung

Peter Medgyessy

Ökonom und konturloser Politiker

A. O. (Budapest) Der siegreiche Spitzenkandidat von Ungarns Sozialistischer Partei (MSZP), Peter Medgyessy, ist kein Mitglied der Partei, und er gedenkt, wie er noch während der Wahlkampagne mitgeteilt hat, ihr auch als Ministerpräsident nicht beizutreten. So strikt ausserhalb der Parteipolitik hatte Medgyessy allerdings nicht immer gestanden, denn er gehörte der kommunistischen Vorgängerorganisation an und war in den letzten drei Jahren vor dem Zusammenbruch des Einparteistaates auch Mitglied des Zentralkomitees. Nach der politischen Wende 1989 trat indessen Medgyessy der erneuerten MSZP nicht mehr bei, und dabei blieb es bis heute.

Medgyessy, der im kommenden Herbst sein sechzigstes Lebensjahr vollendet, ist in Budapest geboren. Er hat in der ungarischen Hauptstadt Ökonomie studiert und im Fach Theoretische politische Wirtschaftswissenschaft abgeschlossen. Medgyessys Familie stammt aus Siebenbürgen, und er selbst beruft sich gern auf diese Herkunft. Seine Laufbahn machte er von 1966 an im Finanzministerium, wo er von Stufe zu Stufe hochstieg, 1982 stellvertretender Minister wurde und 1996 die Leitung übernahm; 1987 bis 1990 unmittelbar vor der Wende bekleidete er das Amt eines Vizeministerpräsidenten. Die reformkommunistische Bilanz Medgyessys, der als politisch tonangebende Gestalt nie in den Vordergrund trat, ist nicht eindeutig. Die Banken- und die Steuerreform, wichtige Schritte auf dem Weg zum Systemwechsel, verbanden sich damals unter anderem mit seinem Namen, aber auch Retorsionen gegen Mitarbeiter des Instituts für monetäre Fragen, eines Zentrums von Reformforderungen.

Medgyessy gehörte zu jenen Kadern der Partei, die in der neuen Ära ihr Fachwissen, die zuvor gewonnene Position und ihr Beziehungsnetz in kürzester Zeit zu konvertieren verstanden. 1990 bis 1994 leitete er als Präsident und Direktor die Budapester Niederlassung der Bank Paribas. Hernach, nachdem die Sozialistische Partei an die Regierung zurückgekehrt war, beriet er eine kurze Zeit Ministerpräsident Gyula Horn und kam dann an die Spitze der Ungarischen Investitions- und Entwicklungsbank. 1996 trat er dem Kabinett Horn bei und wurde dessen dritter Finanzminister. Auf seinem Fachgebiet verzeichnete man in dieser Zeit der wirtschaftlichen Stabilisierung namentlich die Pensionsreform als eine bedeutende Massnahme. Nach 1998, als die Sozialisten abermals in der Opposition standen, fungierte Medgyessy als Direktionspräsident der Inter- Europa Bank und als Vizepräsident einer Versicherungsgesellschaft. Mit seinem Namen zeichnet Medgyessy ferner ein Consulting-Büro, das vorab ausländische Investoren betreut, und er ist Vorsitzender der Ungarischen Nationalökonomischen Vereinigung.

Der stets distinguiert gekleidete, vornehme, doch steife und gehemmt sprechende Herr, der von einem Arbeiterführer gar nichts an sich hat, war in einer parteiinternen Lage der Verlegenheit zum Spitzenbewerber der MSZP geworden. Seine Fachkompetenz, Jovialität und gepflegte Erscheinung mochten ihm Sympathien eintragen, eine Ausstrahlung im Wahlkampf ging aber von ihm nicht aus. Den Erfolg haben die Sozialisten eher dem Einsatz ihres Vorsitzenden, Kovacs, zu verdanken, und damit stellt sich die Frage, wie gewichtig die Autorität des parteilosen Ministerpräsidenten Medgyessy sein wird. Medgyessy befürwortet einen sozialdemokratischen Kurs der «neuen Mitte», doch steht dahin, welchen Einfluss er auf die Partei auszuüben vermag. Ein unbeschriebenes Blatt, da ihm jede entsprechende Erfahrung fehlt, ist Medgyessy auf aussenpolitischem Gebiet. In seinen bisherigen sporadischen Äusserungen bekannte er sich zum europäischen Einigungswerk und nannte das gute Verhältnis zu den Nachbarländern eine Priorität.


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Neue Ruhr Zeitung

Ein Sieger gegen den Trend

Sozialistischer Spitzenkandidat Medgyessy ist kein Parteimitglied.

HANS-JOACHIM DECKERT

WIEN/BUDAPEST. Noch vor drei Wochen hatte in Ungarn niemand viel auf die Chancen des sozialistischen Spitzenkandidaten gesetzt. Gegen den noch immer jugendlichen Charme des amtierenden Premierministers Viktor Orban und gegen seinen skrupellosen Wahlkampf schien auf der linken Seite des Parlaments kein Kraut gewachsen zu sein. Peter Medgyessy hatte gegen seinen Ruf als graue Finanz-Eminenz nicht viel mehr als die Ausstrahlung wohlerzogener Seriosität einzusetzen. Die einstige Staatspartei, in der noch immer einige Dogmatiker herumgeistern, hatte den zwischen 1996 und 1998 amtierenden Ex-Finanzminister in der Regierung des Reformers Gyula Horn ohne große Begeisterung nominiert. Der Kandidat wiederum fand es nicht nötig, Mitglied der Partei zu werden.

Heute ist Medgyessy der Kronzeuge gegen den behaupteten europäischen Rechtsdrall. Sein Sieg gründet sich nur zum Teil darauf, dass dem dominanten Orban die möglichen Koalitionspartner abhanden gekommen waren. Zuletzt war auch der Gegenspieler zu lockerer Form aufgelaufen und hatte seine Fachkompetenz gefälliger als früher verkauft. Damit konnte der 59-Jährige das letzte Handicap überspielen: Er ist zwar zweifelsfrei Ungar, stammt aber aus Siebenbürgen und hat die ersten Jahre seines Lebens gar in der rumänischen Hauptstadt Bukarest verbracht, dann aber seine ganze Ausbildung bis hin zum promovierten Politökonomen in Budapest erfahren.

Das Finanzministerium mit seinen Grundsatzabteilungen bot unter Janos Kadar eine Basis für weltwirtschaftliche Denkmodelle. Medgyessy war wohl zu keiner Zeit ein Dogmatiker, sondern überzeugter Reformer des Steuersystems und der Kreditwirtschaft. Der gute Name, den er sich damit erworben hat, ließ ihn nach der Wende rasch in der Privatwirtschaft Fuß fassen. Der künftige Chef einer linksliberalen Koalitionsregierung ist ein im Stillen erfolgreicher Mann und lebt mit seiner Familie - die beiden erwachsenen Kinder sind aus der ersten Ehe - im Wohlstand, zu dessen Mehrung auch ein umstrittenes Privatisierungsgeschäft beigetragen haben soll.

Die Mehrzahl seiner Wähler hat das nicht gestört. Viele unter ihnen versprechen sich von einem erfahrenen Praktiker am ehesten eine Lösung für das ungarische Grundproblem, die einseitige Verteilung der Ressourcen zugunsten des durch westliche Investitionen hochgepuschten Westen des Landes. Mit einem durchschnittlichen Bruttoeinkommen von 386 Euro entspricht Ungarn nicht dem Hochglanzbild, das man vielfach von ihm hat.


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Financial  Times Deutschland

Medgyessy kündigt Kurskorrektur in Ungarn an

Von Ralf Südhoff, Budapest

Ungarns designierter Ministerpräsident Peter Medgyessy kündigte am Montag eine marktfreundliche Kurskorrektur in der Wirtschaftspolitik seines Landes an. Er will das Klima für ausländische Investoren verbessern.

Im Gespräch mit der FTD kritisierte er den "wirtschaftlichen Patriotismus" seines konservativen Vorgängers Viktor Orban. "Das ist nicht unser Konzept", sagte Medgyessy.

Der parteilose Spitzenkandidat der Sozialisten, die sich am Sonntag im Bündnis mit den liberalen Freien Demokraten knapp gegen die regierende Fidesz durchgesetzt haben, will das Klima für ausländische Investoren verbessern. Medgyessy sagte: "Es ist unser ureigenes Interesse, dass Kapital frei fließen kann."

Ex-Premier Orban hatte im Wahlkampf zunehmend Kritik an Investoren aus dem Ausland geäußert und öffentliche Aufträge oft ungarischen Unternehmen zukommen lassen. So hatte sich die deutsch-österreichische Bauholding Strabag darüber beklagt, um Aufträge im Wert von bis zu 300 Mio. Euro gebracht worden zu sein. Medgyessy versprach nun, dass Ungarn "bei öffentlichen Anschaffungen die EU-Ausschreibungsregeln beachten wird".

Überdies kündigte er Steuersenkungen und eine Reform der Landwirtschaft an. "Die Menschen sollen wieder motiviert werden, sich selbst um ihre Zukunft zu kümmern wie zu Beginn der 90er Jahre", sagte der Banker. "Diesen Trend hat die alte Regierung gebremst."

Fragen nach der Finanzierbarkeit der sozialistischen Wahlversprechen weicht Medgyessy aus. Die Sozialisten haben angekündigt, keine von den Konservativen eingeführten sozialen Leistungen wie Rentenerhöhungen oder günstige Eigenheim-Kredite zurückzunehmen. "Ich gehe davon aus, dass die Regierung nicht gelogen oder Statistiken gefälscht hat", sagte Medgyessy mit Blick auf Gerüchte, die Haushaltslage sei womöglich schlimmer als erwartet.

Tiefe Gräben zwischen den politischen Lagern

Der neue Ministerpräsident steht vor der Aufgabe, das Land nach einem extrem polarisierenden Wahlkampf wieder einen zu müssen. "Die Gesten der Versöhnung sollten sich aber nicht an die rechten Parteien, sondern an ihre Wähler richten", schränkte Medgyessy ein.

Mit Blick auf das Vorgehen Orbans gegenüber der fünf Millionen Menschen starken ungarischen Diaspora in den benachbarten Staaten, denen der Premier unter anderem "Ungarn-Ausweise" versprochen hatte, sagte Medgyessy: "Natürlich fühle ich mich für diese ungarische Minderheit im Ausland verantwortlich, öffentlich-juristisch bin ich aber nur für die zehn Millionen Ungarn im Land zuständig." Die national orientierte Politik der Fidesz-Regierung hatte sowohl bei den Nachbarstaaten als auch in den EU-Beitrittsverhandlungen für Irritationen gesorgt.

Der künftige Premier räumte indirekt ein, dass die Bevölkerung seines Landes noch nicht reif sei für einen EU-Beitritt. "Die Ungarn mögen die Europäische Union sehr, aber sie wissen noch nicht, was sie ist", sagte Medgyessy. "Es geht um Rechte, aber auch um Pflichten."

Der Beitritt 2004 setze daher noch große Anstrengungen voraus, glaubt Medgyessy. Brüssel hatte jüngst Pläne veröffentlicht, die Beitrittskandidaten bei den Agrarzuschüssen nicht mit den bisherigen Mitgliedern gleichstellen zu wollen. "Hier erwarte ich sehr harte und konsequente Verhandlungen, in denen ich unsere Interessen sehr stark vertreten werde", kündigte Medgyessy an. Er fügte aber hinzu: "Natürlich weiß ich, dass die EU nicht Ungarn beitreten möchte."


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Frankfurter Rundschau

Ein Technokrat ohne Charisma

Wahlsieger Peter Medgyessy

Von Ulrich Glauber (Wien)

Von strahlendem Triumph war nichts zu spüren, als Peter Medgyessy, designierter Regierungschef Ungarns, nach dem Erfolg seiner Sozialisten und ihres Juniorpartners Freidemokraten am späten Sonntagabend vor die Kameras trat. Nüchtern machte der Sieger der Parlamentswahlen seinem Ruf als pragmatischer Technokrat ohne Charisma alle Ehre.

In den vergangenen Monaten seien in der Gesellschaft Gräben aufgerissen worden, die nun zugeschüttet werden müssen, rief der 59-jährige Spitzenkandidat der sozialistischen MSzP im Outfit eines britischen Gentleman zum Konsens auf. "Ich strecke allen Bürgern freundschaftlich die Hand zur Versöhnung entgegen", wandte sich der designierte Ministerpräsident gegen die nationalistische und bürgerlich-ideologische Polarisierungskampagne des bisherigen Premiers Viktor Orban, ohne den Widersacher beim Namen zu nennen.

Dass der Diplomatensohn überhaupt zum sozialistischen Spitzenkandidaten avancieren konnte, hat Medgyessy den Fraktionskämpfen in der ehemaligen Einheitspartei Ungarns zu verdanken. Die MSzP-Flügel konnten sich weder auf eine Rückkehr von Ex-Regierungschef Gyula Horn einigen, der bei den Wahlen 1998 gegen Orban unterlegen war, noch woltlen sie sich auf Miklos Nemeth festlegen, den letzten ungarischen Ministerpräsidenten vor der Wende. Auch Parteichef Laszlo Kovacs, der nun vermutlich wieder Außenminister wird, schied aus dem Rennen aus. So erwies sich nach längerem Streit Medgyessy als Kompromisskandidat.

Der heute parteilose Finanzfachmann hatte zunächst während der kommunistischen Periode Karriere gemacht. Am 19. Oktober 1942 in Budapest geboren trat er nach dem Studium an der Budapester Wirtschaftsuniversität 1966 einen Referentenposten im Finanzministerium an und arbeitete sich soweit nach oben, dass er 1987 zum Minister in diesem Ressort berufen wurde. Ungarn hatte damals schon der Reformeifer der sanften Wende erfasst und der Finanzminister stellte sich - nicht ohne Risiko - auf die Seite der Neuerer, leitete die Privatisierung ein und bescherte seinem Land ein weitgehend westlichen Mustern folgendes Steuersystem.

Nach dem Machtverlust der Sozialisten bei den ersten pluralistischen Wahlen 1990 wandte Medgyessy nicht nur der Partei, sondern der Politik überhaupt den Rücken. Als Generaldirektor der ungarischen Filiale der französischen Parisbas startete er eine zweite Karriere als Banker, die er lediglich für ein Zwischenspiel als Nachfolger von Finanzminister Lajos Bokros von 1996-1998 in der sozialistischen Regierung Gyula Horn unterbrach. Seine Verbindungen zum internationalen Finanzkapital machen den Träger des Ordens der französischen Ehrenlegion zur Zielscheibe der Angriffe der ungarischen Rechtsradikalen. Medgyessys Karriere sei der Beleg, dass die MSzP nach ihrer Machtübernahme die ungarische "Heimat" an das internationale Großkapital verscherbeln werde, heißt es. Dass Medgyessy zudem seine öffentliche Imagepflege der Agentur eines israelischen Staatsbürgers überlassen hat, stieß in Teilen Ungarns, wo der Antisemitismus sich derzeit eher ausbreitet, ebenfalls auf Kritik.

Weniger an diesem plumpen Antisemitismus aus der rechten Ecke des ungarischen Politspektrums mag es allerdings liegen, wenn Medgyessy seinen überraschenden Aufstieg so wenig euphorisch feiert. Zwar ließen die Sozialisten in den vergangenen Monaten keinen Zweifel daran aufkommen, dass für sie einzig die Freidemokraten als Koalitionspartner in Frage kommen, dennoch liegen zwischen MSzP und SzDSz Welten.

Am meisten muss Peter Medgyessy jedoch die eigenen Genossen fürchten. Die Melange aus Sozialdemokraten und Altkommunisten, Gewerkschaftern und Privatisierungsgewinnern mit eigenem Unternehmen zusammenzuhalten, ist nicht gerade mit einem Kaffeehausplausch gleichzusetzen.


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taz (Berlin)

Sieg der Sozialisten in Ungarn

Bei den Parlamentswahlen erleidet die Regierungskoalition von Ministerpräsident Orbán eine Niederlage. Neuer Regierungschef wird der Bankier Medgyessy. Zusammen mit den Liberalen kommt er auf eine knappe Mehrheit

aus Budapest GERGELY MÁRTON

"Wir haben gewonnen", verkündete Péter Medgyessy, Spitzenkandidat der Sozialistischen Partei (MSZP), am späten Sonntagabend in Budapest. Mit einer Mehrheit von zehn Sitzen werden wohl die Sozialisten und ihr Verbündeten, der Bund Freier Demokraten (SZDSZ), die nächste Regierung Ungarns bilden.

Die Sozialisten konnten zwar die Parlamentswahlen für sich entscheiden, aber der zweite Wahlgang ging verloren. Das Bündnis der beiden regierenden Parteien Bund Junger Demokraten FIDESZ von Ministerpräsident Viktor Orbán und das Demokratisches Forum MDF holten bei der Stichwahl auf. Von den 131 Wahlbezirken, in denen bei der ersten Runde am 7. April kein Kandidat mindestens 50 Prozent der Stimmen erhielt, gewannen sie 75.

Einen überragenden Sieger haben die Wahlen damit nicht hervorgebracht. Von den 386 Abgeordneten werden die Sozialisten nach dem vorläufigen Endergebnis 178 stellen, die Liberalen 20. Die Regierungsparteien kamen auf 188 Mandate, aber nach einer Vereinbarung werden sie voraussichtlich eigenständige Fraktionen bilden. Damit wären die Sozialisten die stärkste Kraft.

Entsprechend zurückhaltend fielen Sonntagnacht die Reden in Budapest aus. Ministerpräsident Orbán freute sich über die guten Ergebnisse der Stichwahl, gab sich aber geschlagen. Wahlsieger Medgyessy betonte, er wolle das Land nach dem heftigen Wahlkampf wieder vereinen. Und der Chef der Liberalen, Gábor Kuncze, gab sich mit dem schlechtesten Abschneiden seiner Partei seit der Wende zufrieden. Die Liberalen sind die einzige politische Kraft, die neben den großen Volksparteien die Fünf-Prozent-Hürde schaffte.

Nach der Meinung von Politologen zeigt das Wahlergebnis vor allem, dass sich in Ungarn zwei große Volksparteien nach westlichem Muster herauskristallisieren. FIDESZ vereint das Spektrum von weit rechts bis in die Mitte. Das liegt daran, dass die rechtsradikale Wahrheitspartei MIÉP in den letzten Wochen Wähler an Orbáns Partei verlor und an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.

Nach Angst- und Horrorszenarien im Wahlkampf war Orbáns Rede nach der Niederlage für viele überraschend gelassen. Die Konservativen hatten zuvor keine Mittel gescheut und die Menschen gegen die Opposition aufgehetzt. Nun scheint Orbán eingesehen zu haben, dass es an der Zeit ist, zu deeskalieren und den Kampf wieder von der Straße ins Parlament zu verlagern.

Der parteilose Bankier Medgyessy hat viel zu tun, wenn er seine Versprechen halten will, zumal er nur über eine knappe Mehrheit verfügt. Im Wahlkampf versprach er allen Gesellschaftsschichten ein besseres Leben. Nach Ansicht von Kritikern könnte dies das Land zahlungsunfähig machen. Andere werfen ihm vor, dass er vor der Wende stellvertretender Regierungschef der Reformkommunisten war. Anschließend verließ er jedoch die Partei und wechselte in die Privatwirtschaft. Darauf gründet der Vorwurf der Regierung, Medgyessy wolle Ungarn dem Großkapital überlassen. Doch offenbar hat der Professor für Wirtschaftslehre mit dem Image eines Fachmanns die Wähler überzeugt. Und schon gestern kam eine Einladung aus Washington.

taz Nr. 6732 vom 23.4.2002, Seite 11


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Berliner Zeitung

Ungarns Wahlsieger brauchen die Opposition

Parteipolitische Polarisierung könnte Referendum über EU-Beitritt beeinflussen

Frank Herold

BERLIN, 22. April. Es sei seine wichtigste Aufgabe, so sagte der designierte ungarische Premier, Peter Medgyessy, in der Wahlnacht, die Polarisierung zu überwinden und das Land wieder zu einigen. Diese Zielsetzung entspricht nicht nur seinem Naturell, sie ist dringend geboten. Nicht nur, um die vom bisherige Premier Viktor Orban im Wahlkampf aufgepeitschten Emotionen der Bevölkerung wieder abzukühlen.

Die neue Regierung der linken Mitte wird nach dem bisher vorliegenden Ergebnis im Budapester Parlament lediglich über eine Mehrheit von zehn Sitzen verfügen. Für viele der Entscheidungen, die jetzt in Vorbereitung der EU-Aufnahme anstehen, genügt das nicht. Beide große Lager wollen eine schnelle EU-Mitgliedschaft, doch bei der Ausformulierung der Details der ungarischen Gesetzgebung werden die Sozialisten auf die Opposition zugehen müssen. Gefährlich wäre es auch, wenn die derzeitige parteipolitische Polarisierung das anstehende Referendum über den EU-Beitritt beeinflussen würde.

Populismus zur Überwindung der Konfrontationen, die bis in die Familien hineinreichten, ist vom künftigen Premier nicht zu erwarten. Medgyessy gilt, anders als sein Vorgänger, für eher trockene Sachpolitik. Als Finanzminister in der letzten sozialistischen Regierung war gerade er es, der für einen Kurs des knappen Geldes auf schmerzhaften Einschnitten in das soziale Netz bestand. Der gelernte Wirtschaftswissenschaftler legte so den Grundstein für einen Aufschwung, von dem später dann auch Orban profitieren konnte.

Ungarns Wirtschaft ist auch während der weltweiten Konjunkturflaute stärker gewachsen als der Durchschnitt der EU-Staaten. Die Inflation ist innerhalb des letzten Jahres von mehr als zehn auf unter sieben Prozent gesunken. Die Arbeitslosenquote liegt bei lediglich 5,7 Prozent. Wobei sich gerade hier auch schon eines der Probleme zeigt, vor dem die Medgyessy-Regierung steht. Durch Ungarn geht nicht nur ein politischer Riss, sondern auch ein ökonomischer. Während die EU in den westlichen Landesteilen und Budapest praktisch schon angekommen ist, weisen die Regionen östlich der Donau noch große Rückstände auf.

Diesmal hat Medgyessy mit der Senkung von Kapitalsteuern sowie dem Verkauf staatlicher Anteile an großen Unternehmen weitere Schritte zur Marktliberalisierung angekündigt. Gleichzeitig sollen jedoch auch soziale Schritte wie die Steuerfreistellung niedriger Einkommen sowie die Reform des Gesundheits- und Rentensystems vorangetrieben werden. Zu alldem haben die Sozialisten auch noch ein internes Problem: Sie müssen in den nächsten Jahren endlich den dringend nötigen Generationswechsel vollziehen.


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Süddeutsche Zeitung

Sozialisten und Liberale wollen Regierung bilden

Ungarns künftiger Premier ruft zur Versöhnung auf

Parteiloser Peter Medgyessy setzt sich für ein Ende der Feindschaft zwischen den Parteien ein

Von Kathrin Lauer

Budapest – Einen Tag nach der zweiten Runde der Parlamentswahl in Ungarn, bei der die bisher oppositionellen Sozialisten und Liberalen zusammen eine Mehrheit errungen haben, wurden erste Vorbereitungen für den Regierungswechsel eingeleitet. Die sozialistische MSZP mit ihrem parteilosen Spitzenkandidaten Peter Medgyessy und die liberale SZDSZ, angeführt von Gabor Kuncze, begannen offizielle Koalitionsverhandlungen. Bereits in der letzten Wahlkampf-Phase hatten sich die beiden Parteien verbündet, da Chancen bestanden hatten, dass die regierende rechtskonservative Fidesz-MPP und ihr Ministerpräsident Viktor Orban im zweiten Wahlgang doch noch aufholen würden. Staatspräsident Ferencs Madl kündigte an, für eine baldige Regierungsbildung zu sorgen.

Medgyessy, der aller Voraussicht nach neuer Ministerpräsident Ungarns wird, kündigte am Montag die Streichung der Steuern auf den Mindestlohn an, die Erhöhung der Gehälter im Erziehungs- und Gesundheitswesen sowie die Erhöhung der Stipendien für Studenten. Für Ungarns Außenpolitik signalisierte der künftige Regierungschef einen Richtungswechsel: Die von Orban kritisierten Benes-Dekrete sollten kein Hindernis für den EU-Beitritt Tschechiens und der Slowakei sein, sagte er.

Medgyessy versprach nach dem ungewöhnlich lautstarken Wahlkampf, die Polarisierung der ungarischen Gesellschaft in politische Freunde und Feinde zu beenden und rief alle Parteien zur Versöhnung auf. Er wolle Ministerpräsident aller zehn Millionen Ungarn sein. Er fühle sich aber für 15 Millionen Magyaren verantwortlich, fügte er hinzu. Damit meinte er die in den Nachbarländern Rumänien und Slowakei lebenden ethnischen Ungarn, um die sich auch sein Kontrahent Orban bemüht hatte. Medgyessy hatte im Wahlkampf vor allem auch die gerechtere Verteilung des Wohlstands in seinem Land versprochen.

Nach der zweiten Wahlrunde, bei der in Stichwahlen über die Direktkandidaten aus 131 Wahlkreisen entschieden wurde, hatte sich zwar ergeben, dass Medgyessys MSZP mit 179 Mandaten schwächer ist als Fidesz. Jedoch verfehlte Orbans Partei mit nur 188 Mandaten die absolute Mehrheit. Es galt als möglich, dass sich die Fidesz-Fraktion weiter verkleinert, weil das mit ihr verbündete Ungarische Demokratische Forum (MDF) erwägt, mit seinen 24 Parlamentariern eine eigene Fraktion zu bilden. Als einzige kleine Partei zogen die Liberalen mit 19 Mandaten ins Parlament ein.

Binnen 30 Tagen muss sich das neue Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung versammeln. Danach hat Staatschef Madl weitere 30 Tage Zeit, um einen Ministerpräsidenten vorzuschlagen. Dieser muss nicht aus der stärksten Parlamentsfraktion kommen, es kann auch derjenige sein, der in der gegebenen Konstellation die besten Aussichten hat, eine Parlamentsmehrheit zu bekommen. Dies wäre Medgyessy.

Orban räumte seine Niederlage ein und kündigte eine „konstruktive Opposition“ an. „Wir haben die Schlacht verloren, man hat uns die Regierungsinstrumente aus der Hand geschlagen“, sagte er. Das Volk habe sich gegen die „bürgerliche Welt“ und für „die sozialistische Welt“ entschieden. Unterdessen zeichnete sich innerhalb von Orbans rechtskonservativem Bündnis Missstimmung ab. Die Ankündigung der MDF, eine eigene Fraktion gründen zu wollen, kam überraschend. Zuletzt war die MDF – an der Seite von Fidesz – kaum noch als eigenständige Kraft wahrgenommen worden. Miklos Csapody, Mitglied im Vorstand der MDF, sagte, man wolle sich von niemandem mehr etwas diktieren lassen. Dies zielte offenbar gegen Orban, dem die Sozialisten immer wieder einen diktatorischen Stil vorgeworfen hatten. Fidesz-Chef Zoltan Pokorni betonte derweil, dass seine Partei zusammen mit der MDF eine „starke Opposition“ bilden wolle.


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DER STANDARD (Wien)

Dienstag, 23. April 2002, Seite 5

Sozialisten und Liberale steuern Koalition an

Nach der knappen Mehrheit für die bisherige Opposition aus Sozialisten und Liberalen bei der Parlamentswahl bereitet sich Ungarn auf einen Machtwechsel vor. Der bisherige Premier, Viktor Orbán, resignierte bereits in Würde.

Gregor Mayer aus Budapest

Ungarns Sozialisten (MSZP) und Freidemokraten (SZDSZ) haben am Montag ihre Fühler zueinander ausgestreckt, um möglichst rasch Koalitionsverhandlungen einzuleiten.

Die Stichwahl am Sonntag brachte aber noch gehörige Dramatik in den ungarischen Wahlprozess. Die konservativen Jungdemokraten (Fidesz) des scheidenden Ministerpräsidenten Viktor Orbán kehrten den Trend der ersten Runde am 7. April um. Dass es sich am Ende doch nicht ausging, war dem Umstand zu verdanken, dass MSZP und SZDSZ einen ausreichenden Vorsprung aus der ersten Runde mitbrachten und da sie auch die Wahlarithmetik nach dem Scheitern der rechtsextremen MIÉP von István Csurka ein wenig begünstigte.

Orbán hatte vor der Stichwahl alles auf eine Karte gesetzt. Mit einer massiven national-populistischen Demagogie, die nicht einmal vor offensichtlichen Verleumdungen des politischen Gegners zurückschreckte, rüttelte er vor allem die Bevölkerung im ländlichen Raum auf. Seine Kampagne konzentrierte sich auf rurale Gegenden, in denen die ohnehin hohe Wahlbeteiligung in der ersten Runde deutlich unter dem Landesschnitt lag und in denen der sozialistische Kandidat sicher zu führen schien. Vor allem in Süd- und Ostungarn gelang es Orbán auf diese Weise, Erstrunden-Ergebnisse völlig umzudrehen.

Mit 188 Mandaten kann die Wahlallianz von Fidesz und Demokratischem Forum (MDF) dennoch keine Regierung mehr bilden. Die Sozialisten mit 178 und die Freidemokraten mit 20 Mandaten sind allein koalitionsfähig, zumal Orbán und der SZDSZ-Vorsitzende Gábor Kuncze vor und nach den Wahlen eine Fidesz-SZDSZ-Koalition kategorisch ausschlossen.

Wahrscheinlich wird die MSZP die stärkste Fraktion im neuen Parlament sein, denn das Wahlallianz-Abkommen zwischen Fidesz und MDF erlaubt es dem kleineren Partner, eine eigene Fraktion zu bilden. Allem Anschein nach werden die 24 gewählten MDF-Abgeordneten von diesem Anrecht Gebrauch machen.

Dramatik kam in der Wahlnacht auch deswegen auf, weil sich im Fidesz-Wahlzentrum zunächst der Fidesz-Vorsitzende Zoltán Pokorni aufs Podium schwang: "Noch ist nicht entschieden, ob die bürgerliche Kraft die Wahl gewonnen hat." Er stellte zahlreiche Wahlanfechtungen und Neuauszählungen in Aussicht, die das Ergebnis noch umkehren könnten. Tatsächlich wurden zwei Wahlkreise mit hauchdünnen Vorsprüngen von fünf bzw. 14 Stimmen entschieden, je einer ging an die MSZP und an Fidesz.

Letztlich war es Orbán, der für klare Verhältnisse sorgte. "Gratulieren wir den Siegern, und verneigen wir uns vor dem Wählerwillen", schärfte er den konsterniert dreinblickenden, meist jugendlichen Sympathisanten im Wahlzentrum ein. Jener Mann, der wie keiner vor ihm die ungarische Gesellschaft gespalten hat, um seine Macht zu bewahren, akzeptierte in einer gewiss bitteren Stunde die Grundregel der Demokratie: Wer verliert, geht. Péter Németh, der Chefredakteur der Tageszeitung Népszava, die die Orbán-Regierung vier Jahre hindurch an ihren Schwachstellen gegeißelt hatte, schrieb am Montag anerkennend: "Orbán hat sich an diesem Abend zu einem wahrhaft großen Politiker gewandelt. Er hat sich verhalten wie ein wirklicher Demokrat."


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DER STANDARD (Wien)

Dienstag, 23. April 2002, Seite 36, Kommentar

Genosse Trend ist illoyal

Gerfried Sperl

In Frankreich, einem Paradeland des westlichen Sozialismus, hat die Linke mit Lionel Jospin einen psychotisch wirkenden Rückschlag erlitten. Umso mehr, als die einst nachhaltig moskautreuen Kommunisten endgültig in der historisch verständlichen Versenkung verschwinden.

In Sachsen-Anhalt ist die Formel Rot-Rot so sehr fehlgeschlagen, dass Kanzlerkandidat Gerhard Schröder nicht mehr mit SPD-Rückenwind rechnen kann. Und erst vor wenigen Wochen ist in Portugal einer der Stars der europäischen Sozialdemokratie geschlagen worden. Ganz anders Ungarn. Ein gegenteiliger Trend. Kein rauschender Sieg, aber mit einer Koalition (und einem unabhängigen Banker als künftigem Ministerpräsidenten) schaffte die Linke den Umschwung beim Nachbarn Österreichs.

Also vorläufig kein flächendeckender antilinker Trend in Europa, wenngleich das große Dreieck Blair-Schröder-Jospin am Sonntag zerbrochen ist. Gar nicht zu reden von der seinerzeitigen Größe, als sich die sozialdemokratische Regierungsmacht von Schweden über Dänemark, Deutschland, Frankreich und Österreich bis nach Italien zog. Stand da nicht auch noch Portugal unter einem roten Stern?

Wenn es eine Tendenz gibt, dann die: Genosse Trend ist schrecklich illoyal. Er läuft gegen die Mächtigen, vor allem die Übermächtigen und ideologisch Übernächtigen. Er fördert die Oppositionellen, vor allem die Rechtspopulisten. Die Sozialdemokraten gewinnen, wenn sie auf der richtigen Seite stehen - wie in Ungarn. Sie verlieren, wenn sie mit einer anderen Großpartei ins Bett kriechen - wie in Paris. Wenn sie dann aufschrecken, ist es meistens zu spät. Auch für die Meinungsforscher, die mit im Schlafzimmer waren.

Dass sich die französischen Sozialdemokraten bei den Parlamentswahlen im Juni wieder erholen, ist nicht auszuschließen. Denn mehr als sonst wo ist die Kür des Staatspräsidenten auch ein ritueller Akt. Daran schließt sich wieder der politische Wahlalltag an. Er wird die große Frage beantworten, ob die Linke tatsächlich in einer tiefen Krise steckt oder ob ein Teil ihrer Wähler Lionel Jospin auf keinen Fall an der Spitze der Grande Nation haben wollte und daher in der ersten Runde den rechtsextremen Plebejer Le Pen bevorzugt hat.

Erst zum Jahresende, wenn die Wahlen in den Niederlanden und in Deutschland vorüber sind, wird man klarer sehen. Kurze Gastspiele auf der europäischen Wählerbühne geben auch die Tschechen (derzeit sozialdemokratisch) und die Slowaken (mit einem neuerlichen Meciar-Anlauf). Dann steht auch die Bestätigung oder Abwahl von Schwarz-Blau in Österreich bevor. In allen drei Auseinandersetzungen spielt eine Rolle, was sich ideologischen Zuordnungen oft entzieht: die Attraktivität der Spitzenkandidaten. Jospin ist ein Langweiler; Gerhard Schröder, den jetzt alle gefährdet sehen, ist es nicht. Und Viktor Orbán auf der anderen Seite, ein Populist der Sondersorte, hat seine Niederlage nicht abwenden können. Er ist fürwahr kein Linker.


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Die Welt

Linksbündnis wird Ungarn regieren

Knapper Sieg von Sozialisten und Liberalen. Erneut Rekordbeteiligung im zweiten Wahlgang

Von Boris Kalnoky

Budapest - Der Endspurt war spannend, aber am Ende siegten wie erwartet die Sozialisten: Ungarns Wähler haben sich gegen die bislang regierenden Konservativen entschieden. Staatspräsident Ferenc Mádl wird den parteilosen Spitzenkandidaten der Sozialisten, Péter Medgyessy, mit der Regierungsbildung beauftragen. Das Ergebnis fiel jedoch denkbar knapp aus. In den zwei Wochen zwischen der ersten Runde und der Stichwahl mobilisierten die zurückgefallenen Bürgerlichen (Fidesz-MPP) alle Kräfte, ließen kein Mittel ungenutzt, versuchten insbesondere die ländliche Bevölkerung zu mobilisieren. Mit einigem Erfolg - statt der eigentlich erwarteten Mehrheit von mehr als 20 Abgeordneten für das linke Bündnis aus Sozialisten (MSZP) und Linksliberalen (SZDSZ) wurden es nur zehn.

Medgyessy verkündete, sein wichtigstes Ziel nach dem leidenschaftlich und erbarmungslos geführten Wahlkampf werde darin bestehen, die dabei entstandenen Wunden zu heilen. In den letzten Monaten hatten konservative Politiker die Linken "Vaterlandsverräter" genannt, diese wiederum titulierten Orbán als "Diktator", vor dem das Volk "Angst" habe.

Die eigentliche Überraschung war das Ergebnis der ersten Runde gewesen, in der die Linken entgegen der meisten Prognosen einen uneinholbar scheinenden Vorsprung herausarbeiteten. Der relative Erfolg in der Stichwahl muss den Bürgerlichen schmerzhaft bewusst gemacht haben, dass sie vor der ersten Runde zu fahrlässig waren. Orbán hatte sich für einen relativ unaufdringlichen Wahlkampf entschieden, er selbst griff erst spät ins Geschehen ein, und auch die Plakate der Fidesz-MPP waren nicht so omnipräsent wie jene Medgyessys. Das änderte sich erst in der zweiten Runde. Hätte Fidész in der ersten Runde ähnlich konzentriert gearbeitet, wäre vielleicht der eine oder andere entscheidende Prozentpunkt dabei herausgesprungen.

Für die Ungarn bringt das Ergebnis wohl keine große Veränderung. Vermutlich wird auch Medgyessy das Land vernünftig auf Kurs gen Westen halten. Ein Unterschied mag sich beiden Beitrittsverhandlungen mit der EU ergeben, die nun vielleicht noch glatter laufen werden. Orbán hatte sich im Wahlkampf darauf festgelegt, den Verkauf ungarischer Agrarböden an Ausländer so weit wie nur möglich zu erschweren. Hier könnten die Sozialisten zu Zugeständnissen bereit sein.

Zünglein an der Waage wird eine kleine Partei, die eigentlich nur in der Hauptstadt existiert - die linksliberale SZDSZ. Sie befindet sich nun in einer günstigen Verhandlungsposition, um wichtige Ministerien zu ergattern.

Ungarns Wähler wissen offenbar, was dem Lande nützt. Die erste, konservative Regierung nach der Wende stellte die Weichen für einen sanften, aber gründlichen Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft - dafür waren die Bürgerlichen besser geeignet als die noch nicht modernisierten Sozialisten. Diese wiederum verpassten dem Land vier Jahr später einen brutalen Sparkurs, wie ihn nur eine linke Regierung durchziehen kann, ohne Massenproteste auszulösen. Nachdem so die Grundlage für anhaltendes wirtschaftliches Wachstum gelegt war, kamen wieder die Konservativen an die Reihe und machten sich ans Werk, ganz gezielt einen kaufkräftigen, bürgerlichen Mittelstand zu schaffen. Nur so kann Ungarns Marktwirtschaft weiter gedeihen. Diese Politik war erfolgreich.

Die Aufgabe der Sozialisten wid es nun sein, Ungarn endgültig in die EU zu führen - das können sie vielleicht etwas besser als die Konservativen, die mehr als in der Vergangenheit auf den rechten Rand ihrer Wählerschaft hätten Rücksicht nehmen müssen.

Jeder erfüllt so seine Funktion und zu seiner Zeit. Ungarn gedeiht, und das ist allen wichtigeren politischen Kräften des Landes zu verdanken - und vor allem den Wählern selbst.


Der Tagesspiegel (Berlin)

Wenn's ernst wird in der Spaßgesellschaft

Christoph von Marschall über Frankreichs Wahl

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Das ist das beunruhigend Neue: der spielerische Umgang derart vieler Bürger mit dem Wahlzettel. Als ginge es um das Casting für den Ferienpräsidenten im Club Méditerranée oder die Kür des Schlagerkönigs der Spaßgesellschaft. Als hätten die Bürger das Gefühl dafür verloren, worauf es bei einer Wahl ankommt: auf die Entscheidung zwischen politischen Konzepten oder wenigstens zwischen Lösungsansätzen für einzelne Sachprobleme. Das System in Westeuropa verfeinert sich, die Unterschiede zwischen der Rechten und der Linken verwischen, sind nicht mehr so holzschnittartig wie in den Dekaden kurz nach dem Weltkrieg. In der hoch entwickelten Demokratie wächst der Unernst der Wähler. Zur Strafe werden nun Linke, denen das nie auch nur im Traum eingefallen wäre, für Chirac stimmen müssen - um Le Pen zu verhindern.

Mit Blick auf Sachsen-Anhalt und Jospins Niederlage wird jetzt abermals das Ende des sozialdemokratischen Zeitalters ausgerufen, andere warnen unter Verweis auf Frankreich (Le Pen), Österreich (Haider), Italien (Postfaschisten und Lega Nord) oder Dänemark (Volkspartei, DVP) vor einem Vormarsch der Rechtsextremen in ganz Europa. Da gibt es Gegenbeispiele. In Ungarn, wo auch am Sonntag gewählt wurde, siegten die Sozialdemokraten, wie vorher in Großbritannien und Polen. Es ist schon richtig: Das klassische sozialdemokratische Milieu schrumpft, die moderne Linke wird in Teilbereichen neoliberal. Aber sie wird auch in Zukunft Wahlen gewinnen. Das Zeitalter einer sich ständig modernisierenden Sozialdemokratie geht nie vorüber. Und was die Rechtsextremen-Welle betrifft: In Ungarn scheiterte Csurka, in Sachsen-Anhalt ist die DVU, der Überraschungssieger von 1998, gar nicht mehr angetreten.

(...)


Der Tagesspiegel (Berlin)

Zwischen zwei Welten

MACHTWECHSEL IN UNGARN

Beinahe hätte Viktor Orban das Kunststück geschafft, als erster osteuropäischer Regierungschef nach der Wende wieder gewählt zu werden. Das hätte in der Region den Anfang einer Stabilisierung bedeutet und der EU einen verlässlichen Ansprechpartner über den Zeitraum einer Legislaturperiode hinweg beschert. Dass es anders kam, zeigt auch: Die Demokratie bei den EU-Anwärtern ist noch längst nicht etabliert. Grunddemokratischen Vorgängen wie der Wiederwahl einer Regierung haftet der Ruch des Unstatthaften an. Was in Polen unlängst zu besichtigen war, in Tschechien zu besichtigen sein wird, hat sich auch in Ungarn beispielhaft gezeigt: Wird eine Partei stark und neigt sie dazu, ihre Position auszubauen, wachsen im Volk die Ängste. Machtausübung wird schnell als Machtmissbrauch denunziert. Hinzu kommt, gerade in Ungarn, eine unterentwickelte Kultur des demokratischen Dialogs. Der talentierte Machtpolitiker Orban hat auf Polarisierung gesetzt. Die Ungarn müssten sich, „nicht zwischen zwei Parteien, sondern zwischen zwei Welten entscheiden", sagte er. Und: Ungarn, Freiheit, Familie, Sicherheit – alles schwebe in Gefahr, wenn man „die anderen“ wieder ans Ruder lasse. Wahlkampffähige Zuspitzungen mal abgezogen: Die enorm gestiegene Wahlbeteiligung und der Stimmengewinn für Orbans Rechtskonservative haben gezeigt, dass man sich tatsächlich vor einer Schicksalswahl wähnte – und nicht vor dem demokratischen Normalfall. So hat sich Orban am Ende das Kunststück seiner Wiederwahl selbst verdorben. pak


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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ungarische Aufräumarbeiten

Nach dem überhitzten Wahlkampf kehrt wieder der politische Alltag ein / Von Matthias Rüb

BUDAPEST, 22. April

Am Tag nach dem Stichentscheid vom Sonntag war es, als atme ganz Ungarn auf. Es hat seit den ersten freien Wahlen von 1990 keine Abstimmung gegeben, der ein so vergifteter Wahlkampf vorausgegangen ist wie den beiden Wahlgängen vom 7. und 21. April. Daß sich führende Politiker der rechten und der linken Volkspartei gegenseitig als Lügner beschimpften, gehörte zu den kleineren Verfehlungen. Mancher Politiker aus den bisherigen national-konservativen Regierungsparteien brandmarkte die politischen Gegner auf der Linken als Vaterlandsverräter oder Marionetten, der Spitzenkandidat der Liberalen hingegen ließ seine Gegner als Windelinhalt plakatieren. Kurz vor dem Stichentscheid rief die Bürgerliche Partei (MPP-Fidesz) von Ministerpräsident Viktor Orbán ihre Anhänger zur Wachsamkeit wegen möglichen Wahlbetrugs durch die oppositionellen Sozialisten und Liberalen auf. Man richtete ein sogenanntes "Demokratietelefon" ein, bei dem Unregelmäßigkeiten angezeigt werden sollten.

Doch die Wahlkampfhitze übertrug sich nur teilweise aufs Wahlvolk. Die Anhänger der beiden Lager gingen in bemerkenswert großer Zahl zur Wahl. In beiden Durchgängen wurde eine Beteiligung von gut 71 Prozent erreicht - so hoch wie nie zuvor seit den ersten freien Wahlen von 1990. Die vierten Wahlen seit dem Ende des kommunistischen Systems waren, wie es der Budapester Politologe András Bozóki formulierte, ein "Fest der Demokratie".

Am Montag begannen in Budapest die Koalitionsverhandlungen zwischen Sozialisten und Liberalen, um eine rasche und geordnete Übernahme der Regierungsverantwortung zu ermöglichen. Im ganzen Land begannen die Aufräumarbeiten. Zehntausende Wahlplakate müssen beseitigt werden. Aber auch bei der Führung der Bürgerlichen wird man mit bisherigen Vorstellungen aufräumen. Denn am Ende sind Orbán und seine Anhänger mit ihrer Taktik, die Gesellschaft in ein Lager der "bürgerlichen Zukunft" und eines der "sozialistischen Welt" zu spalten, gescheitert - wenn auch knapp. Nicht die Sozialisten und Liberalen, die jeweils mit dem seit Jahrzehnten bekannten politischen Personal angetreten waren, haben die Wahl gewonnen. Die Bürgerlichen haben sie verloren. In Wahrheit ging es nicht um eine Entscheidung zwischen zwei Welten, es ging um den Wettbewerb zweier Parteigruppierungen, deren Programme und Versprechungen bedeutend mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als Unterschiede. Vieles spricht dafür, daß Orbán und seine Partei die ersehnte Wiederwahl erreicht hätten, wenn sie sich mit einem Sachwahlkampf um die "neue Mitte" bemüht hätten, statt in Lagertheorien zu denken.

Betrachtungen innerhalb des bürgerlichen Lagers über die Verantwortung für die Niederlage werden nicht lange auf sich warten lassen. Manches spricht dafür, daß das mit Orbáns MPP-Fidesz verbündete Demokratische Forum (MDF) von Justizministerin Ibolya Dávid sich um ein schärferes eigenes Profil bemühen wird. Als ersten Schritt wird das MDF eine eigene Parlamentsfraktion bilden. Von den 188 Mandaten - bei insgesamt 386 Parlamentssitzen -, die MPP-Fidesz und das MDF mit ihrer gemeinsamen Kandidatenliste errungen haben, gehören bis zu 20 dem MDF. Frau Dávid hatte sich zur Mitte der abgelaufenen Legislaturperiode um mehr Abstand zu MPP-Fidesz bemüht und mit anderen konservativen Kleinparteien ein informelles "Taubenbündnis" namens "Békejobb" (Friedensrechte) gebildet. Diese Initiative dürfte nun wiederaufleben, denn die politische Mitte ist verwaist und könnte einer respektierten Partei wie dem vom ersten frei gewählten Ministerpräsidenten József Antall gegründeten MDF einigen Entwicklungsraum bieten. Bei MPP-Fidesz wittert man diese Gefahr. Schon hat der Parteivorsitzende Zoltán Pokorni, der in einer sonderbaren Rede am Sonntag abend den Wahlkampf sogar noch nach Bekanntgabe des Endergebnisses fortsetzte und implizit Anspruch auf die Fortführung der Regierungsarbeit erhob, eine Verschmelzung der beiden Fraktionen vorgeschlagen. Mancher im bürgerlichen Lager wird sich jetzt fragen, was gekommen wäre, wenn ein rechtsliberales Bündnis gemeinsam mit der neuen Zentrumspartei, die auf Anhieb 3,9 Prozent der Stimmen erreichte, den Sprung ins Parlament geschafft hätte und sich nun als Koalitionspartner für die "vereinsamte" MPP-Fidesz anbieten könnte.

Auch auf der Linken müssen sich die neuen Koalitionsparteien - neben der Sacharbeit an den wichtigen Reformprojekten - um die Schärfung ihres Profils bemühen. Der linksliberale Bund Freier Demokraten (SzDSz) hat bei allen Wahlen seit 1990 stets Stimmen verloren und schaffte jetzt nur noch knapp den Sprung über die Fünf-Prozent-Hürde ins Parlament. In der ersten sozialistisch-liberalen Koalition unter Regierungschef Gyula Horn von 1994 bis 1998 waren die Liberalen verschlissen worden und fanden erst vor etwa einem Jahr nach manchem Streit in der Partei wieder zur Geschlossenheit. Die Sozialisten schließlich sind zwar als linke Volkspartei fest etabliert, müssen aber bald den Generationswechsel bei ihrem Führungspersonal beginnen. Noch einmal wird die "alte Garde" um den Parteichef und designierten Außenminister László Kovács sowie um den künftigen Ministerpräsienten Péter Medgyessy nicht mehr zu Wahlen antreten können.

Entscheidend aber für Ungarn, das in zwei oder drei Jahren Mitglied der EU werden will, ist die Versöhnung der verfeindeten Lager. Denn es stehen schwierige politische und wirtschaftliche Reformen bevor, die klassischen sozialen Probleme aller Transformationsstaaten müssen gelöst werden. Das Parlament ist mit 386 Abgeordneten viel zu groß, und auch das komplizierte Wahlsystem bedarf der Verbesserung. Der zweite Durchgang war noch bei allen vier freien Wahlen seit dem Ende des kommunistischen Systems 1990 überflüssig, denn er bestätigte stets die Tendenz des ersten. Dieser Tage hat der Ombudsmann für die nationalen und ethnischen Minderheiten, der Ungarndeutsche Jenö Kaltenbach, bei der Vorstellung seines Jahresberichts 2001 zudem abermals bemängelt, daß die Parteien seit 1990 keinen Weg gefunden haben, damit die Minderheiten des Landes eine garantierte Vertretung im Parlament erhalten.

Dann gilt es, die Strukturreformen im maroden und teuren Gesundheitswesen, bei der Steuer- und Sozialpolitik voranzutreiben. Zugleich müssen die nach wie vor niedrigen Einkommen im Erziehungs- und im Gesundheitswesen angehoben werden. Dann muß die Infrastruktur weiter verbessert werden - in vier Jahren bürgerlicher Regierung wurde zum Beispiel kein Kilometer neuer Autobahn gebaut. Zwar wuchs die Wirtschaftsleistung Ungarns seit 1998 jährlich fast doppelt so stark wie die Raten des EU-Raumes, und die wachsenden Steuereinnahmen konnten für verschiedene Förderprogramme ausgegeben werden. Doch bei der Haushaltskonsolidierung darf die neue Regierung nicht nachlässig werden.

Schließlich gilt es, das Vertrauen der Bürger in ihre politische Elite wiederzuerlangen. 1998 angetreten mit dem Impetus, Schluß zu machen mit der "Seilschaftspolitik" der aus dem Reformflügel der einstigen Staatspartei hervorgegangenen Sozialisten, zeigten sich die jungen Bürgerlichen als gar zu gute Schüler in Sachen Klientelwirtschaft. Scharen von Günstlingen wurden ohne Ausschreibungen mit Aufträgen aus der öffentlichen Hand versorgt. Ein "Amt zur Förderung des Landesimages" wurde gegründet und betrieb die Förderung des Images der Regierung. Mit dem Ergebnis, daß eine knappe Mehrheit der Wähler den Sozialisten eine Politik der Ehrlichkeit und Bescheidenheit zutraut.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2002, Nr. 94 / Seite 14


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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Ungarns Sozialisten umwerben Investoren

Neue Regierung kündigt Steuersenkungen und transparente Politik an

C.K. BUDAPEST, 22. April. Mit dem Regierungswechsel in Ungarn wird sich die Substanz der Wirtschaftspolitik voraussichtlich nur wenig verändern, wohl aber der Stil. Die siegreichen Sozialisten unter Führung des Bankiers Péter Medgyessy wollen vor allem die Finanzpolitik transparenter und die Regierungspolitik berechenbarer machen. Zudem versprechen sie die politische Unabhängigkeit der Gerichte sowie absolute Rechtssicherheit. Die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft und die Attraktivität des Standorts Ungarn sollen Vorrang in allen wirtschaftspolitischen Überlegungen haben.

"Die Steuerbelastung muß geringer werden, außerdem müssen die Lohnnebenkosten deutlich sinken", kündigte der designierte Finanzminister Csaba Laszló an. Damit will die sozialistische Partei und ihr liberaler Koalitionspartner insbesondere ausländische Investoren umwerben. Überraschende Eingriffe in das Preisgebaren, aber auch Verstaatlichungen von Unternehmen sollen dagegen unterbleiben. Das umfassende Infrastrukturprogramm (Szécheny Plan), welches die scheidende Regierung Orbán im vergangenen Jahr aufgelegt hatte, um die Konjunktur anzukurbeln, soll aber fortgeführt werden.

Das Pflichtenheft für die ersten 100 Regierungstage umfaßt die konsequente Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen mit der EU, die Aufstellung des Haushalts für 2003 sowie den Beginn der Steuerreform.

Inwieweit die neue Regierung freilich ihre ehrgeizigen Steuerreformpläne verwirklichen kann, hängt vom fiskalpolitischen Erbe der Regierung Orbán ab. Analysten glauben, der neuen Regierung seien weitgehend die Hände gebunden, da die alte Regierung bis März des Jahres schon mehr als die Hälfte der Haushaltsmittel ausgegeben habe. Da ein schuldenfinanzierter Zusatzhaushalt unvermeidbar sei, werde im kommenden Jahr der Zwang zur Konsolidierung größer werden. Versprechen wie die Anhebung der Löhne um 50 Prozent im Erziehungs- und Gesundheitswesen seien daher ebenso zweifelhaft wie umfassende Steuersenkungen, heißt es in Wirtschaftskreisen. Fraglich sei dies auch deshalb, weil die neue Regierung mit Blick auf die Maastricht-Kriterien das Haushaltsdefizit bis 2006 auf knapp 2 Prozent von heute 5,5 Prozent reduzieren und die Staatsausgaben jährlich um ein Prozent vermindern will.

Die Inflationsrate soll dabei schrittweise auf Maastricht-Niveau sinken. Dies solle nicht über den Wechselkurs auf Kosten der Exportwirtschaft forciert werden, sagte der zukünftige Ministerpräsident Medgyessy. Dagegen ist die Notenbank der Ansicht, der starke Forint-Kurs schade der Exportwirtschaft nicht.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.2002, Nr. 94 / Seite 17


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Südddeutsche Zeitung

Ungarn zeigt im „Terrorhaus" die rechte Hälfte der Vergangenheit

KATHRIN LAUER

Nur noch zwei Stunden, dann werden wir die zwanzig Meter bis zum Eingang überwunden haben. Der stämmige Kahlkopf am Tor wird wortlos nicken und leise bis zwanzig zählen. Nicht mehr als so viele Besucher dürfen im 20- Minuten-Takt das gründerzeitliche Gebäude betreten, das einst die ungarischen Nazis und später die Kommunisten als Zentrale ihrer Geheimpolizei benutzt haben. Nach vier Stunden und 13 Minuten dürfen wir das Haus in der Andrassy- Straße Nummer 60 endlich betreten. Seit Februar ist das Gebäude unter dem Namen „Terrorhaus" als Museum zugänglich.

Der Andrang vor dem Tor ist Teil der Show. Jeder soll sehen, wie groß die Gier ist nach dem einzigartigen Kulturprodukt, das die gerade abgewählte rechtskonservative Regierung Viktor Orbans der Nachwelt hinterlassen hat. Nicht anders ist die quälende Zugangsregulierung auf der Straße zu erklären, denn die durchschnittlich hundert Besucher pro Stunde würden in den drei geräumigen Ausstellungsetagen rasch versickern.

Aber nach dem Konzept der Museumsdirektorin Maria Schmidt darf nichts so sein, wie es ist und nichts so gezeigt werden, wie es war. Aus der extra taubengrau getünchten Fassade schauen Milchglas-Fensterscheiben wie tote Augen heraus. Drinnen geht der Besucher durch eine Geisterbahn. Information ist zweitrangig, Suggestion alles.

Das eiskalte Händchen

In einem Raum steht ein dicker schwarzer Wolga, in dem wahrscheinlich früher die sowjetischen Bonzen durch Budapest fuhren. Vielleicht war es so, erklärt wird dazu nichts. Stattdessen umhüllt ein durchsichtiger schwarzer Schleier das Vehikel wie ein Trauerflor. Alle paar Sekunden leuchtet ein Scheinwerfer ins Wageninnere, so dass die feuerroten Polstersitze aufscheinen. Dieser Trick muss Maria Schmidt in der nahe gelegenen Sankt Stephans-Kathedrale eingefallen sein. Da liegt die mumifizierte Hand des seit tausend Jahren toten ungarischen Nationalheiligen und Königs Stephan hinter Glas. Man muss allerdings eine Münze in einen Automaten werfen, damit die Reliquie angeleuchtet wird.

So viel Kitsch und Provinzialismus im ersten Museum des früheren Ostblocks, das den Terror zweier Diktaturen dokumentieren soll, haben die Ungarn nicht verdient, und auch nicht die Bevormundung durch den offensichtlichen Anspruch der Ausstellungsmacher, die Geschichte zu deuten, und zwar mit Rechtsdrall. Von 25 Räumen sind gerade zwei dem Nationalsozialismus gewidmet. Der Protest der Ungarischen Auschwitz-Stiftung gegen diese Präsentation ist längst verhallt.

Unter dem vom Oktober 1944 bis Anfang 1945 dauernden Regime der Pfeilkreuzler genannten ungarischen Nazis wurden 437 402 Juden deportiert. Vorher schon, 1938, hatte der autoritär regierende „Reichsverweser" Miklos Horthy aber die ersten antisemitischen Gesetze eingeführt. Horthy hat sicherlich auch auf Druck Hitlers gehandelt, doch intern war dafür der Boden bereitet. In der Ausstellung wird Horthy nicht erwähnt. Kein Thema ist auch die von Gebietsansprüchen nach den Verlusten von 1918 belastete damalige Außenpolitik Budapests. Diese revisionistischen Träume hatte Hitler damals als Druckmittel benutzt. Gleich am Beginn des Ausstellungsparcours wird mit larmoyantem Unterton auf einem beweglichen Karten-Bildschirm gezeigt, was Ungarn nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reichs alles verloren hat.

Folterer mit goldenem Herz

So folgt ein Geschichtsfetzen auf den nächsten. Während die Geschichte des antikommunistischen Widerstands und der stalinistischen Verfolgung breiten Raum einnimmt, wird an keiner Stelle erklärt, wie viele Budapester Juden damals von den Pfeilkreuzlern in der Donau ertränkt wurden, nirgendwo ein Wort über den antifaschistischen Widerstand verloren. An einer Wand hängen fast 600 Bilder von zum Teil noch lebenden kommunistischen Folterern. Bilder von Nazi- Folterern habe man schlichtweg nicht gefunden, sagt die Direktorin Schmidt. Dies beweise hingegen nur, dass die Ausstellungsmacher durch und durch Dilettanten waren, sagt dazu der ungarische Zeitgeschichtler Krisztian Ungvary. Er vermisst auch, dass zum Beispiel bei einem der abgebildeten stalinistischen Folterer nicht erwähnt wird, dass er vorher als Antifaschist auch Menschen gerettet hat.

Im Zimmer, das der Deportation der 600 000 Ungarn in die Gulags gewidmet ist, schreitet man über einen Teppichboden, auf dem eine Karte dargestellt ist, von Budapest durch Stalins Reich bis zum Pazifik. Dazu flirren nicht näher erklärte Deportationsszenen und Interview-Fetzen mit Zeitzeugen aus Monitoren, darüber legt sich ein Geräuschteppich aus Rock- und Requiemrhythmen wie eine Zwangsjacke fürs Gehirn.

Im Folterkeller riecht es nach Moder. Als wäre der Anblick des Schlauchs, mit dem Nazis und Stalinisten ihren Opfern Wasser in den Magen pumpten, nicht genug des Grauens; als wären der Karzer und die Zelle, in der die Unglücklichen tagelang im Wasser hocken mussten, nicht entsetzlich genug, wird das Ganze überdies gnadenlos mit wummernden Bass-Tönen aus dem Off durchtränkt, als befände sich der Besucher in einem drittklassigen Krimi. Niemand wird gezwungen, das Terrorhaus zu besuchen. Wer aber Terror will, so müssen sich die Veranstalter gedacht haben, der soll selbst leiden.