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Reuters

Montag 22. April 2002, 14:23 Uhr

Linke Opposition gewinnt Parlamentswahl in Ungarn

Budapest (Reuters) - In Ungarn hat die Mitte- Links-Opposition am Sonntag knapp die entscheidende zweite Runde der Parlamentswahl gewonnen.

Nach Auszählung fast aller abgegebenen Stimmen errangen die Sozialisten mit ihrem Spitzenkandidaten Peter Medgyessy und ihr potenzieller Koalitionspartner, die Freien Demokraten, zusammen 198 der insgesamt 386 Sitze. Damit haben sie zehn Stimmen mehr als die bisherige Regierung der nationalen Bürgerlichen Partei (Fidesz) unter Ministerpräsident Viktor Orban. Auch in der ersten Runde am 7. April hatte die Opposition vorn gelegen. Orban gestand seine Niederlage am Sonntagabend ein.

"Lasst uns unser Haupt vor dem Willen der Wähler beugen", sagte Orban vor Tausenden von Anhängern im Budapester Millennium-Park. Er habe Medgyessy zu dessen Sieg gratuliert. Dieser sagte: "Die wichtigste Frage ist entschieden, nämlich die eines Regierungswechsels." Es wird erwartet, dass Medgyessy Ministerpräsident der neuen Regierung werden wird.

Präsident Ferenc Madl erklärte, er wolle so schnell wie möglich einen neuen Ministerpräsidenten vorschlagen. Zugleich rief er dazu auf, die im Wahlkampf geschlagenen Gräben zu überbrücken. Es müsse wieder Ruhe einkehren, sagte Madl.

Die Sozialisten, hervorgegangen aus der Kommunistischen Partei, hatten zwischen 1994 und 1998 mit den Liberalen eine Regierung gebildet. Unmittelbar nach der ersten Wahlrunde hatten Umfragen noch auf einen Sieg Orbans schließen lassen.

Den vorläufigen Ergebnissen zufolge stellt die Fidesz die größte Fraktion im neuen Parlament und könnte damit eine Minderheitsregierung bilden. Nach der ungarischen Verfassung muss der Präsident des Landes jedoch den Parteichef um eine Regierungsbildung bitten, dessen Gruppe die besten Chancen hat, dabei erfolgreich zu sein. Nur mit Unterstützung der Mehrheit des Parlaments kann ein Ministerpräsident seine Regierungsmitglieder vereidigen.

Die Wähler bestimmten am Sonntag über die Besetzung von 201 Sitzen, über die in der ersten Runde keine Entscheidung gefallen war. Ungarn wählt nach einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht. 176 Sitze werden per Mehrheitswahl entschieden, 210 Sitze nach Parteilisten per Verhältniswahl. Die Wahlbeteiligung betrug am Sonntag 73 Prozent und lag damit zwei Prozentpunkte höher als in der ersten Runde. Es war die vierte Parlamentswahl Ungarns seit dem Ende des Kommunismus.

Orban hatte in jüngster Zeit verstärkt nationale Töne angeschlagen und damit sowohl die Wirtschaft als auch die Europäische Union (EU) irritiert, der das Land bis zum Jahr 2004 beitreten will. Medgyessy steht für eine marktfreundliche Wirtschaftspolitik und hat eine Kürzung der Kapitalsteuern sowie einen Verkauf staatlicher Anteile an Unternehmen angekündigt. Im Wahlkampf versprach er, das von Orban polarisierte Ungarn wieder einigen und den Beitritt zur EU vorantreiben zu wollen.

Ungarns Wirtschaft ist auch während der weltweiten Konjunkturflaute stärker gewachsen als der Durchschnitt der EU-Staaten. Die Inflation ist innerhalb eines knappen Jahres von mehr als zehn auf unter sieben Prozent gesunken. Die Arbeitslosenquote liegt bei 5,7 Prozent.

Die Aktienbörse in Budapest reagierte positiv auf den anstehenden Regierungswechsel. Der Leitindex (Bux) stieg zu Handelsbeginn auf ein 22-Monats-Hoch und gewann 50 Punkte auf 8917,21 Zähler. Im Verlauf gingen die Gewinne jedoch wieder verloren. Händler sagten, der Wahlsieg von Medgyessy sei in den Kurse bereits vorweggenommen worden.


Der Tagesspiegel (Berlin)

Sieg für Ungarns Sozialisten

Konservativer Ministerpräsident Orban muss Macht abgeben

Paul Kreiner

Die Opposition aus Sozialisten und Liberalen hat die Parlamentswahl in Ungarn für sich entschieden. Nach der zweiten und entscheidenden Runde erhielten die Sozialisten mit ihrem Spitzenkandidaten Peter Medgyessy am Sonntag nach Auszählung von 99 Prozent der Stimmen gemeinsam mit den Freien Demokraten die meisten Sitze im Parlament. Den vorläufigen Zahlen der Wahlkommission zufolge erhielten die Sozialisten 179 Mandate im 386 Sitze zählenden Parlament, die Freien Demokraten kamen demnach auf 19 Sitze.

Ungarns rechtsbürgerliche Koalition unter Ministerpräsident Viktor Orban ist der Verlierer der Parlamentswahlen. Das Rennen um die Macht in Ungarn blieb bis in die Auszählung der Stichwahl am Sonntag abend spannend. Hatten die bisher oppositionellen Sozialisten bei der ersten Wahlrunde vor zwei Wochen einen Vorsprung von lediglich 0,9 Prozentpunkten erzielt, so schien es gestern abend zunächst, als hätte Regierungschef Viktor Orban die Stimmung in letzter Minute noch zu seinen Gunsten umdrehen können. Bei einer Wahlbeteiligung, die den Nachwende-Rekord vom 7. April - 70,5 Prozent - noch übertraf, erzielten die Sozialisten unter ihrem parteilosen Spitzenkandidaten, dem Finanzfachmann Peter Medgyessy, schließlich 46,1 Prozent. Die mit ihnen verbündeten Liberalen kamen auf 4,9 Prozent. Zusammen erreichten sie 198 von 386 Mandaten im ungarischen Parlament, also fünf Sitze mehr als die absolute Mehrheit.

Der Wahlkampf um jede Stimme blieb bis in die Endrunde schmutzig. Beide Lager warfen sich gegenseitig vor, Wahlfälschung betreiben zu wollen. Zuletzt forderten die Sozialisten, der Chef des öffentlichen Fernsehens solle zurücktreten, weil er eine 40-minütige, unkritische Sendung über Orban und dessen Partei ausgestrahlt, die "Analyse" der Gegenkandidaten aber mit kritischen Kommentaren angefüllt habe. Um Errungenschaften der Regierung anzupreisen, hatte Orbans Verkehrsminister am Freitag noch kurzerhand 21 Kilometer Autobahn eingeweiht.


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Berliner Zeitung

Die Konstanz des Wechsels

Frank Herold

BERLIN, 21. April. Er ist jung, dynamisch und er war in den vergangenen vier Jahren ziemlich erfolgreich - sein Widersacher dagegen ist eher ein Verlegenheitskandidat. Alles schien dafür zu sprechen, dass Viktor Orban der erste ungarische Ministerpräsident werden würde, der ein Mandat für eine zweite Amtsperiode erhält. Doch die Wähler entschieden sich für den erneuten Wechsel.

Wahlforscher haben auf den ersten Blick einleuchtende Begründungen für die Pendelschläge, die für alle jungen Demokratien Ost-Mitteleuropas typisch sind. Es stimmt jedenfalls, dass sich nach dem Ende des Realsozialismus überall noch keine dauerhaften Bindungen an die neuen Parteien herausgebildet haben und die Zahl der Stammwähler sehr klein ist. Das erklärt die Möglichkeit jäher Wendungen. Wenn sie dann eintreten, wird ergänzend darauf verwiesen, es habe sich um eine Protestwahl gehandelt: fallweise aus Enttäuschung über zu langsame Veränderungen Richtung Wohlstand oder gegen die als zu hart empfundenen sozialen Einschnitte.

Verwirrung macht sich breit, wenn diese Erklärmuster nicht zutreffen - wie im Falle Ungarns. Die knappe Mehrheit der Wähler dort hat sich in der ersten Runde vor allem gegen die von Orban betriebene militante, ja klassenkampfartige ideologische Polarisierung der gesamten Gesellschaft gewandt. Orban hatte im Wahlkampf das Feld des Patriotismus okkupiert und alle, die sich damit nicht identifizieren mochten, als Vaterlandsverräter abgestempelt. Den Sozialisten fielen Sympathien zu, weil sie plötzlich (und historisch falsch) als Opfer dastanden. Aber das mag für einen Teil ihrer Wähler nicht ausschlaggebend gewesen sein. Sie verteidigten ein demokratisches Prinzip: den Pluralismus.

Umgekehrt stehen die Sozialisten offensichtlich kaum noch unter Ideologieverdacht. Das gilt nicht nur für Ungarn, sondern es galt schon für die Wahlen in der Slowakei vor vier Jahren und erst recht für die polnischen Parlamentswahlen im letzten Herbst. Dort hatte sich gezeigt, dass allein die Idee des Antikommunismus nicht mehr ausreicht, um in Ost-Mitteleuropa zu gewinnen. Erstens, weil dieses Argument nur rückwärts weist. Und zweitens, weil es die Ex-Kommunisten kaum noch trifft. Die waren inzwischen auch schon wieder einmal an der Macht und hatten dabei fast ausnahmslos gezeigt, dass das Etikett "sozialistisch" auf neoliberalen, durch und durch marktwirtschaftlichen Konzepten klebt.

Die These von der Konstanz des Wechsels trifft im Übrigen nicht auf die Wahl der Präsidenten in Ost-Mitteleuropa zu. Wo es allgemeine Wahlen für diesen Posten gibt, neigen die Wähler zur Beständigkeit. Das lässt sich keineswegs nur mit der relativen Bedeutungslosigkeit des Amtes erklären. Die Präsidenten - ob nun Havel, Walesa oder Kwasniewski - werden dort als relativ feste Bezugspunkte in den tagespolitischen Wirren verstanden und tatsächlich gebraucht.


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Die Welt

Ungarns Sozialisten versuchen bei den Stichwahlen, ihren Vorsprung zu halten

Die aufregendsten Parlamentswahlen Ungarns seit der Wende gingen am Sonntag in die zweite und entscheidende Runde

Von Boris Kalnoky

Budapest - Von Anfang an zeichnete sich ab, dass die Wahlbeteiligung noch höher liegen würde als vor zwei Wochen. Da waren 71 Prozent der Wahlberechtigten zu den Urnen gegangen, und schon das war ein historischer Rekord. Gestern lag die Beteiligung um 13 Uhr bei mehr als 42 Prozent und damit zwei Prozent höher als vor zwei Wochen zur selben Zeit.

In der ersten Runde hatten die Sozialisten (MSZP) einen leichten Vorsprung erzielt - weniger als ein Prozent trennt sie vom konservativen "Bund der jungen Demokraten - Ungarische Bürgerliche Partei" (Fidesz-MPP). Die Sozialisten sind darüber hinaus mit den linksliberalen Freien Demokraten (SZDSZ) verbündet, die ebenfalls im Parlament vertreten sein werden.

Zu diesen beiden stieß nach der ersten Runde überraschend auch die eigentlich bürgerlich orientierte Zentrumspartei, die erst vor kurzem gegründet wurde. Obwohl sie mit weniger als vier Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte, wird das Zentrum dank der Einigung mit den Sozialisten womöglich mit einigen Abgeordneten ins Parlament einziehen. Beobachtern zufolge war es jedoch unwahrscheinlich, dass alle oder auch nur die große Mehrheit der Sympathisanten des Zentrums der Wahlempfehlung der Parteiführung folgen, da diese Wählergruppe eher konservativ eingestellt ist.

Gegen diese drei Herausforderer mussten sich die bislang regierenden Konservativen unter Ministerpräsident Viktor Orbán ganz auf sich selbst verlassen. Ihre einzige Hoffnung bestand in der Mobilisierung der ländlichen Bevölkerung.

Die Kleinlandwirtepartei, die traditionell eine Stammwählerschaft von mehr als zehn Prozent der Bevölkerung hat, ist in den letzten vier Jahren zu Grunde gegangen. Schuld daran waren diverse Affären und Skandale ihres dubiosen Vorsitzenden Jozsef Torgyán. In der ersten Runde der Wahl erhielt die Partei nur ein Prozent der Stimmen, viele ländliche Wähler stimmten für die Konservativen.

Aber viele andere, so meint man bei Fidesz-MPP, gingen aus Verbitterung gar nicht erst wählen. Deshalb konzentrierte Ministerpräsident Viktor Orban seinen Wahlkampf in der zweiten Runde ganz auf die Provinz.

Insgesamt finden in 131 von 176 Wahlkreisen Stichwahlen statt. In sieben Wahlkreisen gibt es einen spannenden Dreikampf, weil dort jeweils drei Kandidaten sich noch Chancen auf einen Sieg ausrechnen können. In den übrigen Bezirken geht es nur noch um die Frage: Links oder rechts? Aber nicht nur die Entscheidungen in den jeweiligen Bezirken sind wichtig, auch die durchschnittlichen Prozentzahlen. Denn neben der Direktwahl werden auch 70 der 210 Listenplätze erst in der zweiten Runde vergeben, auf der Basis komplizierter Computerberechnungen.

Für Ungarns Zukunft ist es relativ egal, wer gewinnt. Zwischen den großen Volksparteien gibt es keine gravierenden Unterschiede in der Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Für die Zukunft der konservativen Parteien ist die Wahl jedoch von entscheidender Bedeutung. Die Jungdemokraten sind im Wahlkampf nach rechts gerutscht, um die Wähler der Kleinlandwirtepartei und der Rechtsextremen anzulocken. Es wird ihnen nicht leicht fallen, in die Mitte zurückzukehren, besonders wenn sie im Falle einer Niederlage als Opposition ständig laute Kritik üben müssen. So könnte in der rechten Mitte des politischen Spektrums eine Lücke entstehen, in die die neue Zentrumspartei vorstoßen könnte.


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Süddeutsche Zeitung

Zweite Runde der Parlamentswahlen

Ungarn steht vor Regierungswechsel

Prognosen sehen die bisherige Oppositionspartei der Sozialisten vor den Konservativen von Premier Viktor Orban

Von Kathrin Lauer

Budapest – Bei der zweiten Runde der Parlamentswahl in Ungarn am Sonntag haben laut Prognosen die bisher oppositionellen Sozialisten (MSZP) ihren Vorsprung aus der ersten Runde gegenüber Ministerpräsidenten Viktor Orban und seiner rechtskonservativen Partei Fidesz-MPP verteidigen können. Demnach wird als einzige weitere Partei die kleine liberale Partei SZDSZ, geführt von Gabor Kuncze, ins Parlament einziehen. Orban stünde damit kein Koalitionspartner zur Verfügung, da die Liberalen entschlossen sind, die Sozialisten mit ihrem Spitzenkandidaten Peter Medgyessy zu unterstützen. Laut Prognose schaffte die ultra-nationalistische und antisemitische Partei der Ungarischen Wahrheit und des Lebens (MIEP) von Istvan Csurka den Einzug ins Parlament nicht.

Beim ersten Wahlgang vor zwei Wochen hatte die MSZP überraschend 42,05 Prozent der Stimmen erreicht, die Fidesz-MPP nur 41,07 Prozent. Wegen des komplizierten ungarischen Wahlsystems war die Sitzverteilung damit aber noch nicht komplett. In Ungarn hat jeder Wähler zwei Stimmen: eine für eine Parteiliste sowie eine weitere für Direktkandidaten aus den Einzel-Wahlkreisen, die eine absolute Mehrheit brauchen. Wird diese von keinem Kandidaten erreicht, muss in einer Stichwahl über die drei im ersten Wahlgang Bestplatzierten entschieden werden, wobei die relative Mehrheit entscheidet. Bei der ersten Runde konnten von den insgesamt 386 Parlamentsmandaten wegen unklarer Ergebnisse in den Kreisen nur 185 vergeben werden. Jetzt standen in 131 Wahlkreisen Stichwahlen an. Weitere 70 Mandate werden über eine so genannte Kompensationsliste an die Parteien verteilt.

Die Chancen für die Sozialisten, beim zweiten Wahlgang bedeutende Zugewinne zu erhalten, standen gut, weil ihre Kandidaten in den meisten Kreisen auf Platz eins oder zwei lagen und mit den Stimmen rechnen konnten, die bei der ersten Runde die meist drittplatzierten Liberalen bekommen hatten. Sozialisten und Liberale haben für 124 Kreise Absprachen getroffen, auf Grund derer einzelne Kandidaten sich zugunsten der jeweiligen Kollegen aus der verbündeten Partei zurückgezogen haben.

Thema der politischen Auseinandersetzungen im wirtschaftlich aufstrebenden Ungarn, das 2004 der Europäischen Union beitreten will, war die Verteilung des relativen Wohlstands. Die Sozialisten warfen Fidesz Verschwendung und Klientelwirtschaft vor, während Orban auf die nationalistische Karte setzte. Nach einem ungewöhnlich aggressiven Wahlkampf ging vor zwei Wochen ein

Rekord-Anteil von 71,03 Prozent der 8,1 Millionen Berechtigten zur Wahl. Für die zweite Runde wurde sogar eine Beteiligung von 75 Prozent erwartet.