Die Welt
Ungarns Konservative setzen auf Neidkampagnen
Die Partei von Ministerpräsident Orbán hetzt im Wahlkampf gegen "reiche Ausländer" und das "Großkapital"
Von Boris Kalnoky
Budapest - Mit zusammengebissenen Zähnen und hoch erhobenen Fahnen haben sich Ungarns Konservative durch die letzten zwei Wochen des Wahlkampfs geschlagen. Nach der ersten Runde am 7. April saß der Schock tief - man hatte sich schon als Sieger gesehen, alle Umfragen hatten darauf hingedeutet, selbst die ersten Schätzungen am Wahlabend sahen viel versprechend aus. Ganz zum Schluss stand es jedoch fest: die Sozialisten hatten ein Prozent mehr Stimmen als die bislang regierende Ungarische Bürgerliche Partei, und sie hatten vor allem mit der linksliberalen SZDSZ einen Koalitionspartner, während der einzige denkbare Partner der Bürgerlichen, die rechtsextreme "Partei des Rechts und des Lebens" ("Miép") an der Fünf-Prozent-Hürde scheiterte.
Was das bedeutet, versuchten die Parteioberen als noch offene Situation darzustellen: "Wir brauchen in der Stichwahl nur 23 Mandate mehr, als uns sowieso bereits sicher scheinen", mit solchen Parolen machte man sich selbst und den Anhängern der Partei Mut. Bei Licht betrachtet, heißt ein solcher Satz jedoch in erster Linie: Wenn es keine Überraschungen gibt, wird das linke Lager eine Mehrheit von 22 Stimmen im Parlament haben.
Das darf nicht sein, wird nicht sein, wenn wir etwas dagegen unternehmen - die Losung gab Ministerpräsident Viktor Orbán aus, und ein fieberhafter Aktionismus entbrannte. Während sich Orbán und die Partei vor der ersten Runde eher zurückgehalten hatten - ihre Kampagne war am Anfang weit weniger sichtbar als die der Sozialisten, offenbar in dem Glauben, man habe es nicht nötig - zogen sie nun alle Register. Über hunderttausendfache SMS-Botschaften wurden tatsächliche und vermeintliche Sympathisanten angesprochen, Handzettel mit den düstersten Warnungen vor den Sozialisten in alle Briefkästen gesteckt.
Dabei mochte sich der eine oder andere wahrhaft bürgerlich gesinnte Wähler befremdet fühlen, denn als wichtigster Grund, sich vor den Sozialisten zu hüten, wurde ihm deren Liebe zum Großkapital genannt. Die Konservativen setzten derart auf patriotische Appelle, auf das Schüren von Hass und Neid gegenüber "reichen Ausländern", dass bürgerliche Kernwähler, die an freie Markwirtschaft und einen unaufdringlichen Staat glauben, sich unwillkürlich fragen mussten, ob sie in Ungarn noch irgendeine politische Heimat haben. Für sie gibt es, wenn Orbán und seine Leute wirklich so denken, keine einzige Partei mehr, die ihre Werte vertritt.
Höhepunkt des konservativen Aufbäumens war eine so genannte Nationalversammlung vor dem Parlament am vergangenen Samstag. Aus der Provinz, teilweise aus den Nachbarländern und natürlich aus Budapest selbst kamen die Menschen, um eine sehr lange, kämpferische Rede Orbáns zu hören, die gespickt war mit Allegorien für den "kleinen Mann von der Straße". Er sagte, es gebe im Leben eines jeden Menschen mehrere Züge, die er nehmen müsse, um ans Ziel zu gelangen - der erste Job, das erste Auto, die erste eigene Wohnung. Einen wichtigen Zug werde Ungarn verpassen, wenn es jetzt die Macht an die Sozialisten (und damit an das böse Großkapital) zurückgebe.
Es war tatsächlich eine imposante Menge, die auf gut eine halbe Million Menschen geschätzt werden darf. So etwas hat es in Budapest seit der Wende nicht mehr gegeben. Und einige der konservativen Argumente mögen verfangen. So ist es eine Tatsache, dass seit der verlorenen ersten Runde keine von den staatlich unterstützten Wohnungskrediten mehr vergeben wurden, mit dem Hinweis, man solle das Wahlergebnis abwarten. Das hat eine echte Angstwelle bei vielen Ungarn ausgelöst, die bauen, kaufen oder renovieren wollen.
Wahlarithmetisch sieht es auf den ersten Blick dennoch finster für Orbán aus. Rechnerisch müssten die Bürgerlichen (40 Prozent) von der rechtsextremen Miép (erste Runde 4,3 Prozent) und den Kleinlandwirten (ein Prozent) profitieren. Da die Kleinlandwirtepartei gespalten und chancenlos antrat, kann es tatsächlich sein, dass viele ihrer Anhänger nicht an der ersten Runde teilnahmen und sich nun doch ein Herz fassen.
Ein Nackenschlag war jedoch die Entscheidung der eigentlich bürgerlich orientierten neuen Zentrumspartei (3,6 Prozent), die Sozialisten zu unterstützen. Orbán hatte auf ihr Wählerpotenzial gehofft.
Wie auch immer die Wahl ausgeht - die Leidenschaften, die sie auslöste, könnten Ungarns politische Landschaft in den nächsten Jahren verändern. Es ist vorstellbar, dass die Konservativen im Fall einer Niederlage längerfristig geschwächt werden und dass eine neue Partei in genau die Lücke vorstößt, die die Preisgabe aufgeklärter bürgerlicher Werte geöffnet hat. Dies wäre die Chance der Zentrumspartei.
Frankfurter Rundschau
Betteln, im Müll wühlen, Straßen fegen
Wie sich in Budapest Alte und Arme durchschlagen, die von der Mittelschicht-Politik der Regierung nicht profitieren
Von Ulrich Glauber (Budapest)
Die abgetragene Kleidung unter der fadenscheinigen Regenjacke der grauhaarigen Frau hat schon bessere Tage gesehen. Schüchtern wünscht die Budapester Rentnerin einen guten Tag: "Jo napot, kivanok!", bevor sie sich scheu an der zufallenden Eingangstür vorbei in das Mietshaus im Zentrum der ungarischen Hauptstadt drückt. Auf Zurückweisung gefasst, hinkt die Behinderte an ihrem Stock zu den Mülltonnen im Treppenhausflur, um darin bis zu den Oberarmen nach Pfandflaschen, Lebensmittelresten und anderem brauchbaren Abfall zu wühlen. Mehrmals in der Woche wiederholt sich diese Szene in der Dohany utca des Stadtteils Pest.
An der Metro-Station Astoria, einige 100 Meter von der "Tabakgasse" entfernt, reckt in der Tiefebene vor den Rolltreppen zum U-Bahnsteig die 78-jährige Kati R. den Passanten ihre Blumensträuße entgegen. Schmale Bündel von Narzissen und Tulpen hält sie in den Händen, zu ihren Füßen ein Säckchen mit Samen und Pflanzenknollen neben Weidenkätzchenzweigen auf einer Plastiktüte. "Ich ziehe das selbst in meinem Garten", erläutert die Alte, die ein schwarzes Kopftuch tägt. Mit der Familie ihres Sohnes wohnt sie draußen in einer Ortschaft am nordöstlichen Stadtrand und kommt seit acht Jahren mehrmals in der Woche zu dem Verkaufsplatz in der Metrostation. Vier Stunden steht sie dort meistens und verdient in dieser Zeit zwischen 2000 und 3000 Forint (acht bis 12,50 Euro) zu ihrer Monatsrente von umgerechnet 158 Euro hinzu. "Das Gas und der Strom sind so teuer geworden. Ich brauche die Nebeneinkünfte", versichert die Pensionistin.
"Wenn man erst mal über vierzig ist, bekommt man doch keine Anstellung mehr", beschwert sich mit schriller Stimme Ilona S., ebenfalls eine der vielen Blumenverkäuferinnen in Pest und in Buda am anderen Donau-Ufer. Mehrmals hat die Arbeitslose, die jetzt Anfang der fünfzig ist, in den vergangenen Jahren nach schriftlicher Bewerbung einen Vorstellungstermin bekommen, aber die Offerte wurde bei ihrem persönlichen Erscheinen plötzlich zurückgezogen. Das brachte eine Frau in Not, die seit 18 Jahren Witwe ist und zwei Töchter großgezogen hat. Aus ihrem Heimatort bei Miskolc, 190 Kilometer nordöstlich von Budapest, kommt sie deshalb häufig für längere Zeit zum Kleinhandel in die Hauptstadt, wo die Kaufkraft weit höher ist als in der Provinz. Unentgeltlich wohnt sie dann bei einer pflegebedürftigen Rentnerin, die sie als Ausgleich versorgt. "Wenn wir Pech haben, erwischt uns eine Streife", beschwert sich die Blumenfrau. "Weil wir keine Konzession haben, sind wir dann die Waren los und müssen noch eine saftige Strafe zahlen."
Ilona S. hat eine Bleibe und ist somit noch nicht auf der untersten Stufe der Armut in Ungarn angelangt. Im Kontrast zu den vielen protzigen Nobellimousinen und bulligen Geländewagen der Neureichen im Stau auf der Rakoczi ut zwischen dem Astoria und dem Budapester Ostbahnhof (Keletti pu.) fällt das Elend besonders ins Auge. Alle paar Meter sitzt da ein Bettler. Und es betteln keineswegs nur die jungen Romafrauen in ihren bunten Röcken und mit einem rotznasigen Baby auf der Hüfte. Fast 50 000 Obdachlose gibt es nach Einschätzung von Fachleuten in Ungarn, davon vermutlich zwei Drittel in Budapest. Viele von ihnen kamen in den kommunistischen Zeiten als Hilfsarbeiter in die Hauptstadt. Inzwischen haben sie mit der Stelle auch das Dach über dem Kopf verloren, weil die privatisierten Wohnheime zum Teil in Hotels umgewandelt wurden.
Dass 4000 Schlafplätze in kommunalen Unterkünften nicht ausreichen, weiß auch Bürgermeister Gabor Demsky. Aber die Kollegen des Stadtoberhaupts in den einzelnen Bezirken wehren sich mit Händen und Füßen dagegen, dass gerade bei ihnen Obdachlosenheime entstehen. Auch die Regierung Viktor Orban verweigere die Entwicklung zugkräftiger Konzepte, beschuldigt der Linksliberale Demsky seinen national-konservativen Intimfeind an der Spitze des ungarischen Kabinetts. Allein im bitter kalten Dezember des vergangenen Jahres sind in Budapest 24 Wohnsitzlose erfroren.
Die bürgerliche Regierung hat den Schwerpunkt ihrer Sozialpolitik während der vergangenen vier Jahre auf die Förderung ihrer Klientel in der Mittelschicht gelegt. Von den Wachstumsraten der ungarischen Wirtschaft, die in dieser Periode über dem Durchschnitt in den Ländern der Europäischen Union lagen, haben die einkommensschwachen Ungarn nicht profitiert. Drei der zehn Millionen Magyaren leben laut Medienberichten in Armut, darunter allein 1,2 Millionen Rentner und viele der kinderreichen Familien aus der halben Million Romabevölkerung. Der Druck auf die einzige echte Metropole des Landes, wo allein ein Fünftel der Bevölkerung lebt, ist groß.
Zu den zugezogenen Mittellosen aus dem verarmten Osten und Nordosten des Landes kommen Arbeitssuchende der magyarischen Minderheiten in den Nachbarländern, vor allem aus dem rumänischen Siebenbürgen. Aus ihren Reihen kommen viele der ausgemergelten Männer in ihren verbeulten Anzügen aus zweiter Hand, die sich in aller Frühe am Moskauer Platz am Fuß des Burgbergs von Buda versammeln. Ihre Hoffnung, sich für die nächsten Stunden als Taglöhner zu verdingen, ist oft vergeblich.
Auch der Budapester Bürgermeister Demsky, laut eigener Darstellung Anfang des Jahres einziger liberaler Politiker beim alternativen Globalisierungsgipfel im brasilianischen Porto Alegre, hält eine Lösung des Armutsproblems nur mittelfristig durch Investitionserleichterung in der Hauptstadt und steigende Gewerbesteuereinnahmen für möglich. Hilfe für sozial Schwache bleibt da häufig einer Wohltätigkeit nach US-Muster überlassen. Der Erlös einer Versteigerung von Spenden edlen Weins und Prominenten-Souvenirs bei der Einweihung des Maghaz (Kernhaus), eines avantgardistischen Wohnkomplexes für betuchte junge Paare in Budapest, kam im März der Stiftung Kezenfogva zugute. Die Vereinigung "Hand in Hand" war zur Unterstützung junger Obdachloser von Zsuzsanna Gönter, Ehefrau von Ex-Präsident Arpad Göncz ( "Onkel Arpi"), gegründet worden. Im Sommer soll eine luxuriöse Modenschau im Maghaz neue Spenden einfahren helfen.
Die Stadtverwaltung von Budapest tut zumindest insofern das ihre, als sie offenbar möglichst viele ungelernte Arbeiter bei der Straßenreinigung in Lohn und Brot hält. Selbst an hohen Feiertagen sind Scharen von Straßenkehrern in ihren leuchtenden Jacken mit rollenden Mülltonnen, Besen und Schaufeln unterwegs, um die von ihren Bewohnern wahrlich nicht von Abfall verschonten Gassen von Schmutz und Kot zu befreien. So zynisch es klingt: Das Zentrum von Budapest gehört deshalb sicher zu den saubersten in europäischen Millionenstädten.
Frankfurter Rundschau
Ideologendämmerung
Ungarn entscheidet über seinen gesellschaftlichen Wandel
Von Susanna Großmann-Vendrey
Wie das Ergebnis der am Sonntag stattfindenden Stichwahl zur ungarischen Parlamentswahl auch ausfallen mag, eins ist sicher: die vierjährige Legislaturperiode der rechtskonservativen Orbán-Regierung hat einen politischen Scherbenhaufen angerichtet. Trotz kulturellen Gründungsbooms und staatlicher Imagepflege ist die ungarische Gesellschaft tief gespalten. Die dichotome Logik der Parteipolitik durchdringt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens. Die nächtlichen Lichter von Budapest und die "blühenden Landschaften" Transdanubiens können das Elend des Gesundheitswesens, der Landwirtschaft und der beiseite geschobenen sozialen Schichten nicht verdecken.
Dabei präsentierte sich Orbáns Partei bei ihrem Antritt 1998 als die neue, dynamische, kommunistischer Seilschaften unverdächtige Elite der jungen Generation. Sie übernahm ein wirtschaftlich stabilisiertes Land, in dem jedoch im Laufe des Privatisierungsprozesses einige ehemalige Parteigenossen beträchtliche Vermögen in ihren Besitz hinüberzuretten vermochten. Orbáns Losung "mehr als ein Regierungswechsel" hatte einen deutlich restaurativen Charakter: alle Kommunisten, und die man dafür hielt, sollten aus kulturellen und wirtschaftlichen Machtpositionen verschwinden. Zur Stärkung seiner Position brachte Orban stattdessen die Einheit des rechten politischen Spektrums zu Stande. Zwar hielt er zu den Rechten formelle Distanz, ohne sie bei parlamentarischen Intrigen als taktische Bündnispartner zu verschmähen.
Der Tatendrang der jungen politischen Elite entpuppte sich bald als aggressive Machtpolitik. Die Spielregeln demokratischen Umgangs schienen unbekannt. Kaum acht Jahre nach der Wende schränkte Orbán die Opposition ein, verkürzte die Zeiten parlamentarischer Arbeit und entwertete ihre Funktion. Wichtige finanz- und kulturpolitische Entscheidungen gehörten fortan in den Kompetenzbereich des Regierungschefs und blieben dadurch parlamentarischer Kontrolle entzogen. Die Regierung nutzte eine Lücke im Mediengesetz und besetzte die Gremien des öffentlich-rechtlichen Rundfunks durchgängig mit Vertrauensleuten der Koalition. Man versuchte auf die Justiz und auf die Printmedien Einfluss zu nehmen. Selbst die Wirtschaft blieb von etatistischen Eingriffen nicht verschont: das Amt des Regierungschefs, bald ein Staat im Staate, hielt die Kreditpolitik der neuen Bank für Entwicklung in seiner Hand.
Ähnlich erging es der kulturellen Sphäre, die zur Spielwiese eines rechtspopulistischen Kulturkampfs umfunktioniert wurde. In Kunst und Wissenschaft stellte man größtenteils bis dato verborgene Persönlichkeiten ins Licht öffentlicher Ehrung und tauschte Kulturfunktionäre kurzerhand gegen die eigene Klientel aus. Die Auswahl besorgte das Amt des Regierungschefs. Kulturelle Initiativen aus der Zeit der sozialliberalen Regierung versuchte man zu beseitigen: aus Prestigegründen stoppte die Orbán-Regierung in der Budapester Innenstadt den milliardenschweren Neubau des Nationaltheaters und weihte drei Jahre später ihren eigenen Bau an der Peripherie ein. Politisch unliebsamen Institutionen, wie dem renommierten Institut für Politikgeschichte, erging es ähnlich: Sie verloren die staatliche Unterstützung und bekamen üppig ausgestattete Gegengründungen vor die Nase gesetzt.
Mit einem zeitgemäßen Kulturbegriff hatte Orbáns Partei Fidesz allerdings ihre liebe Not. Sie griff die traditionellen Leitideen des antikommunistischen Widerstandes auf und setzte auf "nationale Identität" und "religiöse Bindung". Mit der programmatischen Aussage "Nur wir haben der Nation etwas zu sagen!" begann die Zeit der symbolistischen Politik. Fidesz versuchte die Nation im Zeichen altkonservativer Werte hinter sich zu vereinen und gerierte sich als alleiniger Vertreter nationaler Identität. Orbán sorgte mit seiner aggressiven Rhetorik gegen sogenannte linke Landesverräter für praktikable Feindbilder und spaltete so die Gesellschaft.
Die Feierlichkeiten zum Millennium der ungarischen Staatsgründung, die Milliarden aus der Staatskasse verschlangen, waren ein gigantischer kulturpolitischer Versuch, mit symbolischen Aktionen nationalen Willen zu demonstrieren. Höhepunkt der Veranstaltungen war die Schiffsreise der heiligen Stephanskrone von der Krönungsstadt Esztergom nach Budapest.
Ob der Versuch gelang, die anachronistischen Inhalte der Politik im großen Massenspektakel an den Mann zu bringen, mag bezweifelt werden. Die ungewöhnlich hohe Wahlbeteiligung spricht eher dafür, dass ein Großteil der Bevölkerung ideologisierte Herrschaft satt hat und seiner demokratischen Rechte auf Mitwirkung bewusst geworden ist.
Nach vier Jahren hektischer Orbán-Regierung wären den Ungarn ruhigere Zeiten gesellschaftlichen Friedens zu wünschen. Die sozialistische Nachfolgepartei könnte ihre bis heute versäumte Erneuerung endlich in Angriff nehmen. Orbán und dem Fidesz wären einige Jahre der Opposition zu gönnen. Die vereinigte Rechte Ungarns könnte sich in dieser Funktion vielleicht doch zu einer konservativen Partei von Anstand entwickeln. Für die junge Demokratie wäre es von immenser Bedeutung.
taz (Berlin)
Ungarn im Ausnahmezustand
Vor dem zweiten Durchgang bei den Parlamentswahlen ziehen die Kontrahenten alle Register. Ihre drohende Niederlage versucht die Regierungspartei Fidesz mit Denunziationen und Appellen an das Nationalgefühl der Ungarn abzuwenden
aus Budapest GERGELY MÁRTON
Eine Frau will in Budapest aus dem Bus steigen, eine andere steht ihr im Weg. "Du kommunistische Schlampe, hau ab nach Israel", sagt die Frau. Am Mantelrevers trägt sie eine kleine Trikolore mit den ungarischen Nationalfarben rotweißgelb.
Eine Szene aus dem ungarischen Alltag zwischen den zwei Runden der Parlamentswahlen. Am diesjährigen Nationalfeiertag, dem 15. März, forderte ein regierungnaher Verein alle Ungarn auf, die das Wohl des Landes, der Nation und der Regierung wollen, bis zum Ende der Parlamentswahlen am 21. April die Trikolore zu tragen. Menschen wurden dazu benutzt, um als wandernde Litfaßsäule für die rechten Parteien Wahlkampf zu machen. Damit raubte erst mal eine politische Bewegung der Hälfte aller Ungarn ihre Identität. Die tragen keine Trikolore, wählen wohl die Sozialisten und stürzen das Land ins Verderben.
Seitdem die regierenden Rechtspopulisten den ersten Wahlgang verloren haben, greifen sie mit unbekannter Schärfe wieder an. Zwar sind die Wahlen kaum noch zu gewinnen, aber Premierminister Viktor Orbán lässt nichts unversucht. Am Tag nach der Niederlage tauchte eine E-Mail aus der Staatskanzlei auf. Dort ist zu lesen, wie die Sozialistische Partei MSZP zu diskreditieren ist. Folgende Sachverhalte sind zu verbreiten: Die Sozialisten erhöhen die Gaspreise, führen das Lehrgeld wieder ein, stoppen das Studentenkredit-Programm. "Sollte dies nicht stimmen, wird es doch jeder glauben, wenn wir es nur oft genug sagen" - heißt es in der Mail. Die Staatskanzlei gab zu, dass der Text aus ihrem Hause stammt, dies sei jedoch eine Privataktion eines Mitarbeiters gewesen.
Am vergangenen Wochenende demonstrierte die Regierungspartei öffentlich Stärke. Nach eigenen Angaben hatten sich in Budapest zwei Millionen Menschen versammelt, um Orbán zu hören. Das Land sei in akuter Gefahr, die Sozialisten vernichteten alles, was Ungarn in den letzten vier Jahren erreicht habe, sagte der Regierungschef. Jetzt gehe es um alles oder nichts. Diese verkleideten Kommunisten seien das Urböse und wollten "dem Großkapital zur Macht verhelfen, so Orbán. Dagegen seien die Konservativen in Grunde genommen Sozialdemokraten, die sich um die einfache Bürger kümmerten. Am vergangenen Dienstag verkündete Orban seine Siegesbotschaft in der westungarischen Stadt Gyor. Als Wahlkampfhelfer war auch der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl anwesend.
Böse kapitalistische Kommunisten gegen gute sozialistische Konservative. Wer blickt da noch durch? Der in Führung liegenden Opposition kommt dieser kämpferische Ton gelegen. Sie sagt: Niemand soll Angst haben, dass die nächste Regierung etwas wegnehmen würde. Der Spitzenkandidat der Sozialisten, der parteilose Bankier Péter Medgyessy sieht sich als Ministerpräsident von 10 Millionen Ungarn und nicht von zweimal 5 Millionen, wie Orbán. Diese Rechnungen verfolgen die ungarische Demokratie von Anfang an. Der erste frei gewählte Ministerpräsident des Landes, József Antall, behauptete noch 1990, er fühle sich als Premier von 15 Millionen Ungarn und damit auch aller Landsleute, die im Ausland leben. Orbán wiederholte diese Aussage beim Amtsantritt 1998.
Das Land scheint unfähig, über die Tragödie des Ersten Weltkriegs hinwegzukommen. Mit den Pariser Friedensverträgen verlor Ungarn große Landesteile und ein Drittel der ungarischen Bevölkerung. Medgyessy sprach also gleich zwei Haupttehmen seines Wahlkampfes an. Seine Familie stammt aus Siebenbürgen, er wäre der erste Premier Ungarns, der die rumänische Sprache beherrscht. Trotzdem sieht er sich in erster Linie den Staatsbürgern Ungarns verpflichtet. Überdies will er das Land wieder vereinen. Die Gräben zuschütteln und alle Menschen mehr an der momentanen Wirtschaftsstärke des Landes teilhaben lassen. "Ungarn verdient mehr" - heißt das Leitmotiv der MSZP, denn "Ungarn gehört uns allen".
Demgegenüber versucht die Regierungspartei Fidesz mit Nostalgie die ungarischen Minderheiten in den Nachbarländern ans Mutterland zu binden. Davon erhoffte sie sich ein wachsendes nationales Identitätsbewusstsein. Diese hegemoniellen Ambitionen scheinen einen Teil der Bevölkerung abgeschreckt zu haben. Da nützt es auch nichts, wenn Orbán die Sozialisten als Landesverräter beschimpft.
Zurzeit herrscht ein SMS- und elektronischer Briefkrieg in Ungarn. Die Konservativen verbreiten Horrormeldungen über die angebliche Vergangenheit der Sozialisten und über ihre zerstörerische Vorhaben. Die Anhänger der Sozialisten schlagen zurück, eine SMS vergleicht Orbán mit Hitler (Piktor und Viktor).
Orbán will eine katastrophale Niederlage verhindern. Für ihn wäre es am schlimmsten, wenn die Sozialisten im Parlament die absolute Mehrheit erreichen würden. Er mobilisiert seine Anhänger und schreckt auch nicht davor zurück, Hass gegen Andersdenkende zu schüren.
Am kommenden Sonntag entscheidet sich, wer Ungarn in den nächsten vier Jahren regieren darf. Nach dem Willen der Regierungspartei sollen die Menschen entscheiden, wem sie das Leben ihrer Familie anvertrauen würden. Vielen Ungarn ist diese Rhetorik nur allzu gut bekannt. Es ist gerade 15 Jahre her, da wollte der Chef der ungarischen kommunistischen Partei, János Kádár, auf seine Untertanen aufpassen.
taz Nr. 6729 vom 19.4.2002, Seite 11