Frankfurter Allgemeine Zeitung
Tante Elli und die Kokárda
Die ungarischen Konservativen schlagen nationale Töne an / Von Matthias Rüb
BUDAPEST, 17. April. Erzsike néni ist geladen. Das ist sonst nicht ihre Art. Denn sie gehört zu jener Gruppe von Menschen, ohne die das Leben unzähliger ungarischer Familien kaum denkbar wäre: die unermüdlichen Omas. Erszike néni - was auf deutsch so viel wie Tante Elli heißt - ist Mitte Fünfzig, hat drei erwachsene Kinder und zwei Enkel, die - bis auf die mittlere Tochter - alle noch im Elternhaus leben, das für die jungen Familien um allerlei Anbauten erweitert wurde. Erzsike néni ist von früh bis spät auf den Beinen, kocht, backt, wäscht, bügelt, näht, kauft ein, versorgt die Enkel, pflegt den Gemüsegarten, kümmert sich ums Federvieh. Daß man mit dem Lebensabend etwas anderes anfangen könnte, als tagaus, tagein zu schuften, käme ihr wohl nie in den Sinn.
Erzsike néni ist eine langmütige Frau. Doch dieser Tage ist sie geladen. Und das hat mit der Politik, genauer mit den Wahlen zu tun. Vor vier Jahren hat sie die damals oppositionelle Bürgerliche Partei (MPP-Fidesz) gewählt und dem ehrgeizigen Viktor Orbán mit ihrer Stimme zur Machtübernahme verholfen. Diesmal hat sie, im ersten Wahlgang am 7. April, die Sozialisten gewählt, und auch im Stichentscheid am Sonntag wird sie dem sozialistischen Kandidaten ihre Stimme geben. Sie ist nicht wirklich für die Sozialisten, aber sie ist gegen die Regierung und deren Gehabe. Damit dürfte Erzsike néni repräsentativ für Hunderttausende Wähler sein, die sich - zum Entsetzen des siegessicheren Orbán - trotz erfreulicher wirtschaftlicher Entwicklung den Aufrufen der konservativen Regierung zur nationalen Gefolgschaft widersetzt haben.
Der Grund für Erzsikes Zorn ist ein Vorfall in der Dorfschule vor wenigen Tagen. Eine Geschichtslehrerin hat die Schüler gefragt, wessen Eltern noch die sogenannte Kokárda tragen. Eine Kokárda ist eine Schleife in den ungarischen Nationalfarben, die man sich bei besonderen Feiertagen anzuheften pflegt. Beim letzten Nationalfeiertag am 15. März - in Erinnerung an die bürgerliche Revolution von 1848 - hatte die Regierung ihre Anhänger aufgefordert, die Kokárda bis zu den Wahlen im April zu tragen. Denn auch dabei gehe es um die nationale Sache, nämlich darum, eine Rückkehr der Sozialisten an die Macht zu verhindern. Schon das hat Erzsike néni aufgebracht: "Die Revolution gehört doch allen Ungarn und nicht einer Partei!" Als aber dann der Nachbarjunge kürzlich weinend aus der Schule kam, weil er der Lehrerin gestehen mußte, daß seine Eltern nicht die Kokárda tragen, war es mit ihrer Langmut aus. Seither spricht sie von der Regierung nur noch als "dem Pack".
Es hat keinen Wahlkampf seit dem Systemwechsel von 1989 gegeben, der so giftig und gehässig war wie dieser. Orbán und seine national-konservative Kampftruppe schlüpften in die Rolle der Angreifer, während den oppositionellen Sozialisten und Linksliberalen gar nichts anderes übrigblieb, als das Opfer zu geben, das sich verteidigt. Zu der von Orbán fast bei jedem Wahlkampfauftritt bemühten Formel, daß im Falle einer Regierungsübernahme durch die Sozialisten "die Heimat in Gefahr" sei, weil dann "das Groß- und Finanzkapital die Regierung aufstellt", kamen nach dem verlorenen ersten Wahlgang neue Angriffe hinzu. Der stellvertretende MPP-Fidesz-Chef und Parlamentspräsident János Áder glaubte zu wissen, daß in einem Budapester Zuchthaus die wahlberechtigten Untersuchungshäftlinge zu 95 Prozent den Sozialisten ihre Stimme gegeben hätten. Er behauptete, dies von einem amtlichen Auszählungsprotokoll zu wissen, doch die Stimmzettel aus den Urnen vom Gefängnis hatten von Rechts wegen mit anderen aus dem Wahlkreis zusammengeschüttet und erst dann gezählt werden müssen. Jedenfalls wurde insinuiert, Verbrecher neigten den Sozialisten zu, weil diese gegen die Reform des Strafrechts gestimmt und zudem eine umfassende Amnestie versprochen hätten.
Daß viele Wahlplakate der Opposition mit Judensternen oder der Aufschrift "Vaterlandsverräter!" beschmiert sind, daran hat man sich schon gewöhnt. Zur weiteren Hebung der national erhitzten Stimmung bedienen sich die Strategen und gewöhnliche Anhänger der Regierung auch der neuesten Kommunikationstechnologien. Hunderttausende elektronische Kurznachrichten und E-Mails werden an Mobiltelefone und Computer verschickt, um die Wähler vor den verheerenden Folgen eines sozialistischen Wahlsieges zu warnen. Auch die Anhänger der Sozialisten und Linksliberalen haben diese Instrumente für ihre Gegenpropaganda entdeckt.
Die Spitzenkandidaten der beiden großen Parteien, Regierungschef Viktor Orbán und der parteilose Finanzfachmann und Banker Péter Medgyessy für die Sozialisten, besuchen an den letzten Tagen vor dem großen Showdown am Sonntag die Provinz. Orbán machte klar, daß nur die "schwarze" Provinz das Blatt noch gegen die "rote" Hauptstadt wenden könne. Bei einer Wahlkampfveranstaltung im westungarischen Györ, bei der am Dienstag auch der ehemalige Bundeskanzler Helmut Kohl für die national-konservative Regierung in Ungarn warb, schlug Orbán vor, bis zum entscheidenden Wahltag den Schlachtruf der MPP-Fidesz als allgemeine Grußformel zu gebrauchen: "Vorwärts Ungarn!" statt "Guten Tag!" Dazu meint Erzsike néni: "So weit kommt's noch. Zu mir hat noch jeder ,Kezét csókolom!' zu sagen!" Das heißt auf deutsch: "Küß die Hand!"
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.04.2002, Nr. 90 / Seite 3