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Reuters

Montag 8. April 2002, 05:31 Uhr

Sozialisten bei Wahlen vor Regierungspartei in Ungarn

Budapest (Reuters) - Die oppositionellen Sozialisten in Ungarn liegen in der ersten Runde der Parlamentswahl vom Sonntag nach Auszählung fast aller Stimmen knapp vor der regierenden konservativen Fidesz-Allianz in Führung.

Nach der Auszählung von 95 Prozent der Stimmen entfielen auf die oppositionelle Sozialistische Partei 41,24 Prozent, auf die regierende Fidesz-Allianz 40,33 Prozent, wie die Wahlleitung am Abend mitteilte. Der Bund Freier Demokraten, ein möglicher Koalitionspartner der Sozialisten, kam danach auf 6,1 Prozent, die rechtsextreme Gerechtigkeitspartei scheiterte mit 4,43 Prozent an der Fünf-Prozent-Hürde.

In Umfragen und ersten Trends nach Schließung der Wahllokale hatte die Fidesz-Allianz noch deutlich vor den Sozialisten gelegen. Wahlforschern zufolge ist ein Vorsprung von acht Prozentpunkten in der ersten Runde notwendig, um sich eines Sieges nach der zweiten Runde sicher zu sein.

Die vierte Wahl seit dem Ende des Kommunismus in Ungarn wird am 21. April abgeschlossen. Dann finden die entscheidenden Stichwahlen zwischen den Direktkandidaten statt, die im ersten Anlauf nicht die erforderliche Mehrheit bekommen haben. Nach dem ungarischen Wahlrecht werden 176 Abgeordnete im Mehrheitswahlrecht bestimmt, 210 Sitze werden nach Parteilisten im Verhältniswahlrecht vergeben.

Der Vize-Präsident der Fidesz, Tamas Deutsch, sagte, die Trends und die Rekord-Wahlbeteiligung von 71 Prozent zeigten, dass "die ungarische Demokratie niemals so stark gewesen ist". Der Parteichef der Sozialisten, Laszlo Kovacs, sagte, es sei klar, dass mehr Ungarn gegen als für Fidesz gestimmt hätten.

Die jetzige Regierung hatte mit ihrer national gefärbten Politik für Spannungen mit den Nachbarn gesorgt. Mit Besuchsanreizen umwirbt sie die Ungarn, die in jenen zwei Dritteln des früheren Staatsgebietes leben, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg abgetreten werden mussten. Die Regierung hat zudem gefordert, die Enteignung der Volksungarn in der früheren Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg rückgängig zu machen. Auch bei Diplomaten der Europäischen Union waren die nationalischen Züge der Regierung des Beitrittskandidaten Ungarn auf Skepsis gestoßen.


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Frankfurter Allgemeine Zeitung

Hitze ohne Feuer

Keine Schicksalswahl in Ungarn / Von Matthias Rüb

BUDAPEST, 7. April. Rechtsanwalt István H. und seine Familie sind klassischer ungarischer Mittelstand. Sie wohnen seit acht Jahren im eigenen Haus in einem Budaer Grünbezirk. In der Garage stehen zwei Autos: ein japanischer Mittelklassewagen für den Vater, ein Polski-Fiat für die Mutter. Wenn die erwachsenen Söhne - beide studieren in Budapest und wohnen nicht mehr daheim - übers Wochenende die Eltern besuchen, kommen noch zwei Autos dazu: ein Wartburg (schon mit Viertakt-motor) und ein kleiner Opel. Die parken dann auf der Straße, weil in der Doppelgarage kein Platz mehr ist.

István H., Mitte Fünfzig, kommt vom Land und aus einfachen Verhältnissen. Er und seine Frau, die in der Stadt eine Modeboutique betreibt, haben es zu etwas gebracht - aus eigener Kraft. Darauf sind sie stolz. Am Sonntag sind sie bei sonnigem, aber kühlem Wetter gleich nach dem Frühstück wählen gegangen. Nein, gegangen sind sie nicht, sie sind mit Vaters Auto gefahren, obwohl es bis zum Wahllokal und zurück ein Spaziergang von vielleicht anderthalb Kilometern gewesen wäre. Der Anwalt und seine Frau haben ihre Stimme wieder der national-konservativen Bürgerlichen Partei (MPP-Fidesz) von Ministerpräsident Viktor Orbán gegeben. Damit sind sie in guter Gesellschaft, denn der Wahlkreis, in dem sie leben, ist seit den ersten freien Wahlen von 1990 für den Kandidaten der Bürgerlichen gleichsam abonniert. Auch diesmal wird der Kandidat von MPP-Fidesz ins Parlament einziehen.

László B. ist selbständig und betreibt gemeinsam mit einem gleichberechtigten Teilhaber seit mehr als zehn Jahren ein kleines Unternehmen für Garagen- und Werkstore. Die Geschäfte gehen gut, weil die Wirtschaft in Ungarn und in den Nachbarländern, wohin sie Tore exportieren, wächst und die Bauindustrie floriert. Tore mit oder ohne automatische Öffnung werden gebraucht, nicht zuletzt für Doppelgaragen wie jene im Haus von István H.

Unternehmer László B. und seine Familie sind klassischer ungarischer Mittelstand. Sie wohnen seit sechs Jahren im eigenen Haus in einem grünen Vorort von Budapest. In der Garage stehen zwei Autos: ein deutscher Mittelklassewagen für den Vater, ein italienischer Kleinwagen für die Mutter. Die Zwillingstöchter, neun Jahre alt, gehen auf eine englischsprachige Privatschule. Das teure Schulgeld zahlt der Vater aus eigener Tasche, weil er überzeugt ist, daß es seine Töchter mit einer guten Ausbildung auf internationalem Standard im Zeitalter der Globalisierung leichter haben werden. Auch László B. und seine Frau kommen vom Land und aus einfachen Verhältnissen. Mit Initiative und Fleiß haben sie es zu beachtlichem Wohlstand gebracht, der es den leidenschaftlichen Tauchern erlaubt, bis zu dreimal im Jahr mit den Kindern zu exotischen Tauchrevieren zu reisen.

Auch der Unternehmer und seine Frau sind bald nach dem Frühstück wählen gegangen - übrigens mit den Fahrrädern. Sie haben wieder den linksliberalen Bund Freier Demokraten (SzDSz) gewählt, der zusammen mit den Sozialisten, der stärksten Kraft der Opposition, die Regierung ablösen will. László und seine Frau können das "nationalistische Gequatsche" von MPP-Fidesz nicht mehr ertragen, und vor allem haben sie Sorge, daß die rechtsextreme Gerechtigkeits- und Lebenspartei (MIÉP) als Mehrheitsbeschaffer für Orbán noch mehr Einfluß auf die Politik Ungarns bekommen könnte als schon seit den Wahlen von 1998. Außerdem klagt der Unternehmer über die gar nicht liberale Wirtschaftspolitik der Regierung: Die Sozialabgaben für die Angestellten steigen, die Steuerlast bleibt hoch.

Ganz anders István H. Er sieht das "ungarische Wirtschaftswunder", das sich seit 1998 dank der Politik von Ministerpräsident Orbán und seiner Regierung entfaltet habe, in Gefahr, sollten die Sozialisten und die Linksliberalen vom SzDSz wieder an die Macht kommen. Außerdem gelte es, die nationalen und christlichen Werte zu bewahren. Als "Vaterlandsverräter" - wie es die Propaganda der Regierungspartei mitunter tut - will er die linke Opposition zwar nicht bezeichnen. Aber für ungarische Patrioten und fähige Politiker hält er die "Sozis und ihre liberalen Intellektuellen" nicht.

Die beiden Mittelstandsfamilien sind sich nie begegnet. Aber man könnte sich vorstellen, daß sie einen netten Grillabend miteinander verbringen könnten. Denn es trennt sie viel weniger, als sie miteinander verbindet. Das gilt für Wähler der "verfeindeten Blöcke" aus allen sozialen Schichten. Die scharfe Polarisierung des politischen Lebens ist in Wahrheit künstlich. Die Ungarn schritten am Sonntag, anders als in der mit Fleiß erzeugten Hitze des Wahlkampfes suggeriert, nicht zu einer Schicksals- oder auch nur Richtungswahl, in der es um Fortschritt oder Untergang, gar um Treue oder Verrat ging. Es waren ganz normale Parlamentswahlen, die vierten freien seit 1990. Nach Erkenntnissen von Meinungsforschern waren am Vorabend der Wahlen noch mehr als eine Million von insgesamt gut acht Millionen Wahlberechtigten unentschlossen. Diese Wechselwähler und nicht die "abonnierten" Wähler der Lager haben am Ende über Regierung und Opposition entschieden.

Seit Wochen prangt in Budapest ein Graffito an einer Wand, dessen tiefe Wahrheit mancher Politiker vielleicht noch nicht erfaßt hat: "Mindegy ki a miniszterelnök!" - Es ist egal, wer Ministerpräsident ist! Nun, egal ist es vielleicht nicht. Aber im Vergleich zu den Tatsachen, daß Ungarn eine stabile Demokratie ist, eine dynamische Wirtschaft hat und zudem 2004 Mitglied der EU sein wird, ist es von untergeordneter Bedeutung.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.2002, Nr. 81 / Seite 7


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Skythensänger, Tränengaukler: Ungarn im Wahlkampf besinnt sich auf nationale Symbole

Wahlkampf in Ungarn: Der Graben zwischen Kosmopoliten und Nationalen ist tiefer geworden / Von Wiebke Denecke

Am Südhang des Gellért-Hügels leuchtet das Kreuz der Felsenkirche, an der Nordseite wacht in Stein der nationale Märtyrer Gellért, darüber thront die siegreiche Hungaria. Kirche, Helden, Nation: für die rechtskonservative Regierung Viktor Orbáns fügt sich die Trias auf dem schönsten Hügel Budapests gerade recht in die Wahlkampflandschaft.

Die Stadt glänzt vor Frühlingssonne und Wahlplakaten, die vielen rot-weiß-grünen Veranstaltungsprogramme zum Nationalfeiertag am 15. März hat man mit Bedacht immer noch nicht abgenommen. Die rechtskonservative Partei Fidesz-MPP gibt sich seit ihrem Wahlsieg vor vier Jahren über die linksliberale Koalition einen katholisch-nationalen Anstrich: Das Kultusministerium wurde sogleich in "Ministerium für nationales Erbe" umbenannt, das Programm für die ungarische Gastrolle bei der Frankfurter Buchmesse 1999 noch schnell entsprechend retuschiert, die Millenniumsfeiern der katholischen Staatsgründung durch König Stephan im vergangenen Jahr wurden mit großem Pomp begangen.

Ein kräftiges Crescendo dieser Kulturpolitik hat die Regierung in den Wochen vor dem Wahlkampf auf vielen Nebenbühnen mit intensiver Geschichtsbeweihräucherung inszeniert: ein lang umkämpftes teures Nationaltheater, Subventionen fast ausschließlich für die Verfilmungen der Nationaloper "Bánk Bán" und der Biographie des Reformers Graf Széchenyi, eine Ausstellung zu "Tausend Jahre Christentum in Ungarn" im Schulterschluß mit dem Vatikan, bei der die Reformation zur fremden Randerscheinung verkümmert. Ungarn hat seit der Wende seine Geschichte auf vielerlei Weise wiedergefunden, doch die Regierung Orbán hat vor allem die monumentale Geschichtsschreibung - im Sinne von Nietzsches "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben"- für ihre Zwecke intensiv gefördert. Die "ikonische Wahrhaftigkeit" der beschworenen nationalen Glanzmomente macht Appetit auf zumindest symbolische Wiederholungsgesten: Mit dem neuen "Statusgesetz", das den außerhalb Ungarns lebenden ungarischen Minderheiten Arbeits- und Aufenthaltsprivilegien in Ungarn garantiert, hofiert man die nach dem Ersten Weltkrieg verlorenen Gebiete in Rumänien und in der Slowakei.

In den letzten Jahren hat sich die Gesellschaft polarisiert, alte Reflexe lebten wieder auf, so etwa die Spaltung zwischen christlich-nationalen "Volkstümlichen" ("népiek") und jüdisch-kosmopolitischen "Urbanen" ("urbánusok"), ideologischen Fronten vom Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Diese Spaltung betrifft nicht zuletzt das literarische Leben in Ungarn: hier die christlich-nationalen, dort die jüdisch-liberalen Parteien, hier die Darstellung des harten Bauernlebens, dort die Reflexionen aus großstädtischen Kaffeehäusern, hier die schollentreuen Denker, dort die oft außerhäusige, im Ausland erfolgreiche Intelligenzia. Zu letzterer gehören etwa György Dalos, Péter Esterházy oder Imre Kertész. Und sie sind jeglicher Monumentalgeschichte abhold, wie die überwältigende Mehrheit der ungarischen Intellektuellen, die so ganz andere Geschichten schreiben.

János Térey, knapp über dreißig und gerade für seinen Versroman "Paulus" mit dem Palladium-Preis ausgezeichnet, rutscht nervös auf seinem roten Plastikstuhl im spätsozialistischen Café-Remake "Resti" herum. Nur ein paar Gestalten drücken sich in den Ecken, das Nostalgiekalkül der Café-Besitzer geht noch nicht auf. Térey findet die Grabenkämpfe atavistisch: Man sei in der Literatur jetzt doch schließlich "synchron", die oft so schmerzhaft empfundene Zeitverschiebung gegenüber Westeuropa, die, ähnlich wie in Rußland und doch ganz anders, entweder "volkstümlich" mit Selbstbeschaulichkeit kompensiert oder "urban" durch Weltläufigkeit wettgemacht wurde, sollte doch schließlich passé sein. Der ungarische Kampfschauplatz interessiert ihn wenig, Térey schreibt statt dessen fremde Geschichte: die Zerstörung Dresdens, das Schicksal Königsbergs. Als spätgeborener Zeuge beleuchtet er in seinem lyrischen Tagebuch "Dresden im Februar" Schicksale in den Bombennächten. Er, der sonst ein unverhohlenes Interesse an starken Vaterfiguren hat, erlebt die Bombennächte durch Frauenstimmen, sieht in Dresden den Karneval bis zum alles in Staub versenkenden Aschermittwoch, dem "Ende des Festes". Im "Paulus" sieht man dann auch ein Dresden nach dem Krieg, den Alterswohnsitz des Generalfeldmarschalls Paulus, der sein Damaskus in Stalingrad erlebte. Und ein Kaliningrad der neunziger Jahre.

Es sind die Ruinen tragischer historischer Wendepunkte, die auf seinen Buchdeckeln mahnen. Ihn wundert, wie wenig das Schicksal der Vertriebenen in Deutschland lange Zeit diskutiert wurde, und die deutsche Debatte um Günter Grass' "Im Krebsgang" verfolgt er aufmerksam. Térey scheut sich nicht, den Fehdehandschuh einer fremden Geschichte aufzunehmen - zudem in der monumental anachronistischen Form des Versromans, der das Sprach- und Gattungsempfinden des Lesers in die Welt eines Byron und Puschkin, eines Arany und Petöfi irreführt. Mit seinen fast strapaziösen Formexperimenten versetzte er die ungarische Kritik in ungläubiges Staunen. Er erzählt, wie er in seinem neuen Projekt, einem "Faust der Globalisierung", auf dem Skript des "Rings des Nibelungen" die Gefahren und Reize der Globalisierung nach dem 11. September durchspielt. Ob Ungarn ihn braucht? Er schreibt lieber archetypische Weltgeschichte, bewegt sich mit bewundernswerter Unbefangenheit in fremden Geschichtsgewässern.

László Darvasi hatte als Treffpunkt "Eckermann", das Café des Goethe-Instituts neben der Budapester Oper, vorgeschlagen, und es ist schwer, einen Sitzplatz zu finden, so zahlreich sind die jungen Stammgäste. Darvasi, Erzähler und Mitarbeiter der linksliberalen Wochenzeitschrift "Élet és irodalom" (Leben und Literatur), fand letztes Jahr in der rechtsextremen Wochenzeitschrift "Ungarischer Demokrat" seinen Namen auf der Liste der sogenannten "Quertreiber": Ebenso wie "Vaterlandsverräter" ist dies eine populäre sprachliche Wiederbelebung der ungarischen Rechtsextremen, mit denen Orbán bei diesen Wahlen paktieren könnte, falls er die absolute Mehrheit verfehlt.

Darvasi ist tatsächlich ein bemerkenswerter "Ausreißer": Er schreibt Gegengeschichte, ohne daß man es ihr unmittelbar anmerkt. In der "Legende von den Tränengauklern" spürt er Schicksalen im Ungarn der türkischen Besatzungszeit nach, die erst mit der Rückeroberung Budas 1686 zu Ende ging. Zwar scheint Darvasi mit János Hay und Zsolt Láng zur jüngsten Welle einer langen Tradition literarischer Auseinandersetzung mit dem Orient zu gehören, aber er behandelt dieses etablierte Thema der ungarischen Literatur mit einem Erzählgestus, der aus Mittel- und Südamerika stammt. Miklos Zrínyis Epos der türkischen Belagerung von Szigetvár, in der der Orient noch sehr nah ist, Péter Vajdas Nutzung des Orients als utopische Kulisse im Sinne von Voltaire und Montesquieu, die Ziselierungen des Morgenlands zu einer opulenten Märchenlandschaft aus Tausendundeiner Nacht schließlich bei den Romantikern Mór Jókai und Géza Gárdonyi - all diese Meilensteine literarischer Geschichtsbewältigung in Ungarn interessieren Darvasi wenig. Seine Fabulierkunst folgt den Bewußtseinsströmen des nouveau roman, vor allem aber den Phantasiearchitekturen eines Borges und der sich lustvoll schuldlos gebenden prallen Sinnlichkeit Vargas Llosas. Dem romantisch-christlichen Erbe verweigert Darvasi sich, er schreibt "heidnisch" im religiösen wie erzählerischen Sinne: Aus der Innenperspektive von Serben und Türken, Juden und Christen läßt er das absurde Zeitbewußtsein des magischen Realismus mit der - wenn auch illusorischen - Präzision einfühlsam angelesener historischer Realientreue unmerklich zusammenfließen. Dabei ist ihm eine leibhaftige Parabel ungarischer Vielvölkerpsychologie gelungen, die das Einheitsbild der Monumentalgeschichtsschreibung mit bitterer Sanftheit belächelt.

Denn die ungarische Vielfalt lebt, wenn auch manchmal außerhalb der Grenzen des Landes: András Ferenc Kovács, knapp über Vierzig und ungarischer Lyriker aus Siebenbürgen, ist auf Einladung des "Frühlingsfestivals" ein paar Tage in Budapest, doch es ärgert ihn, wie das Programmheft und die Fernsehreporter ihn als "Renommiertranssylvanier" behandeln. Die Ungarntümelei geißelt er gnadenlos in seinem Band politischer Satire "Saltus Hungaricus".

In Ungarn berühmt und beliebt, ist er in Deutschland fast unbekannt. Das ist kein Zufall, denn mit den schillernden Tricks eines anspielungsreichen Maskenkünstlers und gewitzten Wortschaustellers stellt er seine Übersetzer vor eine schier unlösbare Aufgabe. Sein viersprachiger Band "Fragmente" präsentiert einige Gedichte auch in deutscher, englischer und französischer Übersetzung - und zeigt dabei vor allem eines: Die Annäherung an das ungarische Original ist nur über eine mehrsprachige Brechung zu erreichen, die vor dem geduldigen und polyglotten Leser die Vielfalt des Bedeutungsangebots auszubreiten vermag. Mehrfachübersetzung als Gebot der Wirtschaftlichkeit, aber auch als Übersetzungsstrategie der Machbarkeit.

Kovács spielt auf allen Registern: mal im Wortgewand des humanistischen Scholaren mit großer Vorliebe für garantiert echt gefälschte Latinismen, mal im Ton des Kuruzzenungarisch aus dem achtzehnten Jahrhundert, dann wieder als Parodie von dialektalem und modernem Jargon. Sein Sprachinstrument, der "skythische Slang", wie er das Ungarische nennt, umfaßt alle historischen Oktaven seit dem Mittelalter. Unnötig gelehrt klingt er aber nie.

Ihn amüsiert es, wenn er als "postmoderner Autor" bezeichnet wird. Denn sprachliche Montage ist ein Wesensmerkmal des Ungarischen. Die historische Vielsprachigkeit, die fruchtbare Sprachbedrohung durch das Deutsche, Lateinische und Türkische haben die Sprache zu einem lebendigen Mosaik gemacht und stets auch auf hybridem Trab gehalten. Um so schwerer fällt die Übersetzung in die sehr viel monolithischeren großen europäischen Sprachen. Um so wichtiger ist aber, daß nicht nur die eingängig monumentalen Geschichtsergüsse in den Westen gelangen, sondern auch die anspruchsvoll leichten Lieder einer dichtenden Klio aus Siebenbürgen in unseren Ohren hängenbleiben.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.2002, Nr. 81 / Seite 54


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DER STANDARD (Wien)

Montag, 8. April 2002, Seite 4

Auf der Suche nach liberalen Werten

SZDSZ-Spitzenkandidat Gábor Kuncze: Ungarn wieder auf europäischen Kurs bringen

Gregor Mayer aus Budapest

Der liberale Bund Freier Demokraten (SZDSZ) führte den witzigsten und originellsten Wahlkampf in Ungarn. Pointen und Wortspiele auf Plakaten und in TV-Spots legten die Schwachstellen der neokonservativen Fidesz-Regentschaft bloß.

Die Partei der ehemaligen antikommunistischen Dissidenten war in den ersten Jahren nach der Wende die zweitstärkste politische Formation, heute spricht sie "nur" noch eine urbane, über den engen Tellerrand der Landesgrenzen blickende, aber politisch umso bewusstere Minderheit an - für den Einzug ins Parlament sollte das nach allen Umfragen allemal reichen.

Geht Viktor Orbáns Strategie von der rechts-rechten Homogenisierung nicht auf, könnten die Sozialisten (MSZP) auf die Freidemokraten angewiesen sein, um gemeinsam eine neue Regierung zu bilden.

"1989/90 hat sich Ungarn selbst den Weg vorgegeben", meint der SZDSZ-Vorsitzende und Spitzenkandidat Gábor Kuncze im Gespräch mit dem STANDARD. "Parlamentarische Demokratie, Übergang zur freien Marktwirtschaft und Beitritt zur Europäischen Union." Auf dem Spiel stehe bei diesen Wahlen nunmehr, "ob an diesen Weg wieder angeknüpft oder ob von ihm abgerückt wird".

In erster Linie, so der 51-jährige gelernte Bauingenieur und Volkswirt, sei die europäische Perspektive durch eine eventuelle Zusammenarbeit des Fidesz mit der rechtsextremen und antisemitischen "Wahrheits- und Lebenspartei" (MIÉP) gefährdet. "Wenn das Wahlergebnis tatsächlich diese Kooperation in offener oder verdeckter Form nach sich ziehen sollte, dann würde das den EU-Beitrittsprozess stören und schwere Nachteile mit sich bringen."

Aber unter der Fidesz-Herrschaft habe "die ungarische Demokratie schon in den letzten vier Jahren gelitten". Die Jungdemokraten, die einst als liberale Jugendbewegung die politische Arena betreten hatten - Kuncze schmunzelnd: "Wer kann sich daran noch erinnern?" -, höhlten die politische Bedeutung des Parlaments aus, attackierten die unabhängige Justiz und brachten in der Wirtschaftspolitik "im Wesentlichen nichts" weiter, so Kuncze.

Im Fidesz selbst würden "rechtspopulistische Züge immer stärker hervortreten", meint Kuncze. "Für mich lässt sich nicht beurteilen, ob dies schon zum Wesen des Fidesz gehört oder ob dies den aktuellen politischen Kalkülen der Fidesz-Oberen zu schulden ist." Politisch schädlich sei letztlich beides.

Kuncze lässt den Vorwurf, die Liberalen würden sich zum Mehrheitsbeschaffer der durchaus linksetatistischen Sozialisten machen, nicht gelten. "Wir treten bei diesen Wahlen völlig selbstständig an. Die liberalen Wähler sollen eine Partei und eine authentische Vertretung ihrer Weltanschauung für die nächste Legislaturperiode vorfinden."

Es stehe allerdings außer Zweifel, "dass sich der SZDSZ die Abwahl der Regierung zum Ziel gestellt hat". Dafür werde man sich Partner suchen, Automatismen gebe es aber keine, sagt Kuncze, der unter Expremier Gyula Horn zwischen 1994 und 1998 ungarischer Innenminister war. "Für uns ist in Zukunft wichtig, dass nach Programmen regiert wird, die in möglichst großem Maße von jenen liberalen Werten geprägt sind, wie sie von unseren Wählern geteilt werden."


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Süddeutsche Zeitung

Nach der Wahl ist vor der Wahl

Die Zusammensetzung des ungarischen Parlaments wird erst nach dem zweiten Urnengang in zwei Wochen feststehen

Kathrin Lauer

Gute Chancen hat der einst liberale, heute rechtskonservative Ministerpräsident Ungarns Viktor Orban bei der Parlamentswahl, die gestern begonnen hat. Offen war jedoch, ob Orbans Partei die absolute Mehrheit erzielen kann und ob sie, wenn es dazu nicht reichen sollte, eine Koalition mit der ultra-nationalistischen und antisemitischen Partei MIEP von Istvan Csurka eingeht. Der 38-Jährige Premier hat die Chance, als erster Regierungschef Ungarns seit dem Fall des Kommunismus im Amt bestätigt zu werden und damit sein Land wie geplant 2004 in die Europäische Union zu führen.

„Ich vertraue auf den Sieg", sagte Orban nach der Stimmabgabe im 5. Budapester Bezirk. Sein Bund Junger Demokraten (Fidesz-MPP) führt in den Umfragen mit 44 bis 48 Prozent. Csurkas MIEP lag zuletzt bei vier Prozent, könnte also an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern. Als zweitstärkste Kraft hofft die Sozialistische Partei (MSZP) mit ihrem Spitzenkandidaten Peter Medgyessy wieder an die Macht zu kommen, die sie bei der vergangenen Wahl 1998 verloren hatte. Laut Umfragen können die Sozialisten aber nur mit 34 bis 38 Prozent der Stimmen rechnen.

Wegen des komplizierten Wahlsystems galt es als unwahrscheinlich, dass der Urnengang vom Sonntag aussagekräftige Ergebnisse bringt, so dass am 21. April ein zweiter Wahlgang geplant ist. Zu einer Koalition mit der Csurka- Partei gab es widersprüchliche Signale. Orban schloss eine Zusammenarbeit vor kurzem aus, nachdem er wenige Monate zuvor eine Koalition als möglich dargestellt hatte. Orbans Vize-Parteichef Laszlo Köver bezeichnete Csurka erst vor kurzem als „heimatliebenden, guten Ungarn". Csurka wiederum versprach Orban Hilfe beim zweiten Wahlgang durch das Zurückziehen eigener Kandidaten, wobei ihm die Eigenheiten des ungarischen Wahlsystems zugute kommen. Dieses System, eine Kombination aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht, ist einerseits basisdemokratisch, weil darin der Kontakt des Wählers zu seinem lokalen Kandidaten zum Tragen kommt, andererseits aber so umständlich, dass die Transparenz darunter leiden kann.

Für jeden der acht Millionen Stimmberechtigten gab es am Sonntag zwei Stimmzettel. Auf dem einen Zettel galt es, für eine Partei samt ihrer Kandidatenliste zu stimmen. Auf dem zweiten Zettel standen die Einzelkandidaten aus den Wahlkreisen zur Wahl. Als gewählt gilt hier nur derjenige Kandidat, der die absolute Mehrheit erreicht. Bekommt keiner der Kandidaten mehr als 50 Prozent der Stimmen, müssen sich die drei bestplatzierten Kandidaten einer Stichwahl stellen. 176 – also mehr als die Hälfte der insgesamt 386 Parlamentarier – werden auf diese Weise gewählt. Über die Parteilisten werden nur 152 Mandate besetzt. Weitere 58 Mandate werden über eine so genannte Landesliste nach dem Kompensationsprinzip besetzt, je nach Abschneiden der Parteien. Bei der Stichwahl in zwei Wochen kann allerdings ein Trend, den das Votum über die Parteilisten beim ersten Wahlgang vorzeichnet, sogar umgekehrt werden.