Berliner Zeitung
Ungarn steht vor einer Richtungswahl
Am 7. April haben die Sozialisten die Chance, die regierenden Konservativen abzulösen
Frank Herold
BUDAPEST, im April. - Cicciolina ist gescheitert. Noch einmal wollte die alternde Porno-Diva, die mit bürgerlichem Namen Ilona Staller heißt, als Abgeordnete in ein Parlament einziehen. Das war ihr vor 15 Jahren in Italien, wo sie lange erfolgreich ihrem Gewerbe nachging, als Kandidatin der linksliberalen Radikalen Partei gelungen. Jetzt versuchte die Staller vergeblich, in ihrem Heimatland Ungarn die politische Karriere fortzusetzen. Nicht einmal die für eine Kandidatur notwendigen 750 Unterschriften brachte sie zusammen.
Vor diesen Parlamentswahlen, die in zwei Runden am 7. und 21. April stattfinden, verspüren die Ungarn offensichtlich wenig Neigung, ihre Stimme an irgendwelche Exzentriker zu verschenken. Der mit erbitterter Schärfe geführte Wahlkampf, in dem zuletzt sogar Staatspräsident Ferenc Madl zur Mäßigung aufrufen musste, hat das Land polarisiert. Die Anhänger der beiden dominierenden politischen Lager - der konservativen Jungdemokraten von Premier Viktor Orban und der Sozialisten unter ihrem Spitzenkandidaten Peter Medgyessy - stehen sich so unversöhnlich gegenüber, dass eine große Koalition das einzige Wahlergebnis zu sein scheint, das von vornherein ausgeschlossen ist. Umfragen sehen, abhängig von ihren Auftraggebern, mal die Jungdemokraten und mal die oppositionellen Sozialisten vorn. Zuletzt neigte sich die Waage jedoch etwas mehr auf die Seite der Konservativen.
Es wäre das erste Mal seit dem Zusammenbruch des Sozialismus in Ungarn, dass die Bürger den Regierenden das Mandat für eine zweite Amtszeit erteilen. Der erst 38-jährige Premier Orban hat seit 1998 einiges dafür getan: Die wirtschaftlichen Wachstumsraten lagen bei durchschnittlich vier Prozent, die Arbeitslosenrate sank unter sechs Prozent, die Steuern sind vor allem für die den Aufschwung tragenden mittleren und höheren Einkommensschichten einigermaßen erträglich, und im Ausland wird der ungarische Reformprozess zumeist in hohen Tönen gelobt.
Koalition mit den Faschisten?
"Orban ist das größte politische Talent, das unser Land in letzter Zeit hervorgebracht hat", muss selbst Imre Pozsgay, einst Staatsminister in der letzten kommunistischen Regierung Ungarns, eingestehen. Er wirft seinen ehemaligen Parteifreunden, den jetzigen Sozialisten, vor, die Jahre in der Opposition schlecht genutzt zu haben. "Der notwendige Generationswechsel fand nicht statt. So hat es für viele den Anschein, als kämpfe die alte Garde um ihre letzte Chance, an die Macht zurückzukehren", sagt er. Um die inhaltlichen Unterschiede zwischen den beiden Lagern gehe es dagegen wenig.
Doch auch Orban hat ernste Probleme. Die Jungdemokraten haben mit ihrem aggressiven Alleinvertretungsanspruch im konservativen Lager die anderen Parteien dieses Spektrums in den Untergang getrieben oder - wie die Partei der Kleinlandwirte - in der Koalition zerstört. So gibt es nun zwar, anders als in Polen, eine starke und geeinte Rechte. Für diese bleibt jedoch nur ein Koalitionspartner übrig: Die faschistische Gerechtigkeitspartei des Schriftstellers Istvan Csurka, in dessen Umfeld sich der fremdenfeindliche und antisemitische Bodensatz der Gesellschaft sammelt.
Orbans Mannschaft bestreitet vehement die Absicht, mit diesen Kräften ein Bündnis eingehen zu wollen. Gleichzeitig versäumt Orban jedoch keine Gelegenheit, in Radiostationen und Zeitungen aufzutreten, die der Csurka-Partei nahe stehen. Schon der Verdacht, die Jungdemokraten könnten mit den Faschisten koalieren, hat dem sonst so instinktsicheren Orban im Ausland sehr geschadet. Nach einem Beitrag der "Washington Post" über vermeintlich antisemitische Tendenzen in Ungarn verzichtete beispielsweise US-Präsident George W. Bush darauf, Orban bei dessen letztem Besuch in Washington zu empfangen. Westeuropäische Politiker gaben Orban zu verstehen, die Einbeziehung der Csurka-Partei in die Regierung würde zu einem ernsten Hindernis für eine EU-Mitgliedschaft Ungarns. Orban hofft nun, dass es für ihn im zweiten Wahlgang zur absoluten Mehrheit reicht, um allein regieren zu können. Dagegen allerdings sprechen alle Umfragen.
Süddeutsche Zeitung
Internationale Börse: Budapest
Attraktivität geht verloren
Firmen verlassen den Aktienmarkt / Wahlausgang entscheidend für EU-Beitritt
Von Hans v. der Hagen
An der Budapester Börse wird es still: In den letzten zwei Jahren haben elf Unternehmen dem Aktienmarkt den Rücken gekehrt, immerhin 16 Prozent der dort notierten Unternehmen. Weitere werden folgen, etwa Pick Szeged, Ungarns größter Nahrungsmittelkonzern. Die Kosten für eine Börsennotiz seien im Vergleich zu den Vorteilen zu hoch, kritisiert Tomas Kovács, Vorstandsmitglied bei Pick. Auch die Zahl der Aktienhändler hat sich in den letzten Jahren fast halbiert. Allein die Anleger finden langsam wieder an den Markt zurück. Sie können allerdings mittlerweile nur noch unter wenigen Titeln mit nennenswerter Liquidität auswählen – das sind etwa die Papiere des Versorgers Mol, der Telefongesellschaft Matáv oder der OTP Bank, die mit einem Kursgewinn von mehr als 50 Prozent in den letzten zwölf Monaten bester Wert im Leitindex Bux waren. Im gleichen Zeitraum gewann der Bux rund 20 Prozent, deutlich mehr als die Börsen in Warschau und Prag, die sich binnen Jahresfrist kaum verändert haben. Nur slowenische Aktien haben sich mit einem durchschnittlichen Zuwachs von knapp 50 Prozent in dieser Region noch besser entwickelt. In den letzten Wochen ging der Bux allerdings in Wartestellung, was Marktbeobachter auf die Parlamentswahlen am 7. und 21. April zurückführen. Der Wahlausgang ist bislang offen: Nach neuesten Umfragen liegt die konservative Regierungspartei Fidesz, die eng mit dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) verbündet ist, jetzt wieder vor der Sozialistischen Partei (MSZP).
Exporte in Schwung bringen
Die Sozialisten dürften im Falle eines Sieges eine Koalition mit den Freien Demokraten (SZDSZ) eingehen, die jedoch zunächst die Fünf-Prozent-Hürde überwinden müssen. Die Konservativen könnten indes die rechtsradikale Partei Miép an Bord holen, die bereits Unterstützung für Fidesz angekündigt hat – womöglich aber auch an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. Verlässliche Prognosen werden durch das komplizierte Wahlsystem erschwert: Ein im ersten Wahlgang am 7.April ermitteltes Ergebnis muss keineswegs über den zweiten Wahlgang am 21. April hinaus Bestand haben.
Die genannten Szenarien für eine neue Regierung werden an den Finanzmärkten durchaus unterschiedlich beurteilt, wenngleich Experten zufolge allein eine Regierungsbeteiligung der europafeindlichen Miép für tiefere Verunsicherung sorgen würde. Gemäß einer Reuters-Umfrage favorisieren Devisen- und Anleihenanalysten eher die konservative Fidesz/MDF, während die Börse auf eine linksliberale Koalition hofft. Die Konservativen, die einen stramm patriotischen Kurs fahren, gelten als Förderer der heimischen Industrie und setzten auf eine starke Landeswährung Forint. Die Sozialisten, die in ihrer Regierungszeit von 1994 bis 1998 mit einem einschneidenden Sparprogramm die Basis für den aktuellen wirtschaftlichen Erfolg Ungarns legten, wollen vor allem den Export und Investitionen aus dem Ausland wieder in Schwung bringen. Entsprechend werden Aussagen des MSZP-Vorsitzenden Peter Medgyessy als Signal für einen schwächeren Forint und tendenziell höhere Inflation gedeutet.
Doch die Reuters-Umfrage müsse mit Vorsicht betrachtet werden, warnt Sándor Gallai von der ungarischen DZ-Bank-Tochter. Sie beziehe sich nur auf einen kurzfristigen Zeithorizont von rund sechs Monaten. Mittelfristig würden auch die Anleihenmärkte von einer linksliberalen Regierung profitieren. Denn anders als Fidesz, die sich die niedrigere Inflationsrate von derzeit gut sechs Prozent vorerst noch mit Preisbegrenzungen etwa bei Gas und Medikamenten erkaufe, forderten die Sozialisten eine Liberalisierung der Preise. Der daraus entstehende Inflationsdruck sei von vorübergehender Natur. Daneben werde die Politik von MSZP/SZDSZ wohl auch transparenter ausfallen. Bislang gilt unter Wirtschaftsexperten besonders die undurchsichtige Verteilung öffentlicher Mittel über das Vehikel der Ungarischen Entwicklungsbank als großes Ärgernis. Auch beim angestrebten EU-Beitritt unterscheiden sich die großen Parteien: Während die derzeitige Regierung bis 2004 beitreten möchte, signalisierten die Sozialisten zuletzt, dass es ihnen damit „nicht eilig“ sei. Daraus ziehen die Analysten des Investmenthauses Merrill Lynch den Schluss, dass sich die linksliberale Partei noch bis 2006 oder 2008 mit einem EU-Beitritt Zeit lassen könnte.
Frankfurter Rundschau
Was ein rechter Ungar ist
Vor der Parlamentswahl am Sonntag wird wenig Rücksicht genommen - schon gar nicht auf "die Fremden"
Von Ulrich Glauber (Budapest)
Im klassizistischen Gemeindehaus des Städtchens Karcag, zweieinhalb Autostunden östlich von Budapest, dreht sich zunächst alles um das heruntergekommene Gesundheitswesen oder neue Arbeitsplätze durch Errichtung eines Gewerbeparks auf einem ehemaligen sowjetischen Militärflughafen. Erst nach der Vorstellung der örtlichen Kandidaten der "Partei für Wahrheit und ungarisches Leben" (Miep) spitzen die Leute im überfüllten Versammlungssaal die Ohren. In der Menschentraube am Eingang, wo der Dolmetscher wispernd für die skeptisch beäugten Ausländer übersetzt, wird Ruhe angemahnt. Das Wort hat Miep-Chef Istvan Csurka, und der sagt den resignierten Provinzlern von Karcag, was ein rechter Ungar ist.
Mal fast unverständlich leise, dann in theatralischer Steigerung der Stimmstärke vermittelt der Redner vor der rotweißgrünen Fahne Ungarns seine Art von Selbstbewusstsein. Viele Kinder braucht das Land, und deshalb werde unter seiner Führung jede Hausfrau Gehalt und Rente bekommen, die mindestens drei Kinder zur Welt bringt und in ungarischem Geist großzieht. Unausgesprochen sollen so offenbar die Roma ausgeschlossen werden, die dem Verteidiger des Magyarentums mit ihrer hohen Geburtenrate Sorge bereiten. Fast in jedem Satz Csurkas taucht der Ausdruck "die Fremden" auf. Die Steigerung "fremdherzig" können alle Anwesenden übersetzen: Gemeint sind "die Juden". Doch der Ex-Dramatiker, der im Kommunismus wegen seiner kritischen Anspielungen zwischen den Zeilen sehr beliebt war, erlaubt sich nur zwei konkrete Hinweise. Ausgerechnet einen Israeli hätten sich die Sozialisten (MSzP), die zur eigenen Bereicherung den Ausverkauf der Nation betrieben, als Wahlkampfmanager gekapert. Dass nur "vaterlandslose Kosmopoliten" vom ebenfalls oppositionellen Bund der Freien Demokraten (SzDSz) hinter einem "bestellten Artikel" in der Washington Post über den aufkeimenden Antisemitismus in Ungarn stecken können, mag sich hier ebenfalls jeder ausmalen.
Auf die erhofften Segnungen der Marktwirtschaft wartet man in Karcag seit Jahren vergeblich. Der Beifall in der ungarischen Provinz bleibt dennoch reserviert. Ganz anderen Zuspruch findet Csurka in der Hauptstadt Budapest - rechts der Donau in Buda "zwischen den Hügeln". Hier wohnt in unmittelbarer Nachbarschaft zu den neureichen Profiteuren der Privatisierung das enttäuschte Bürgertum. Ein Teil davon sehnt sich zurück zur Sicherheit des Sozialismus. Die anderen träumen von der Größe eines national gestimmten Ungarn, in dem auch sie endlich gegenüber dem hereinbrechenden Auslandskapital wieder zum Zuge kämen.
Genau hier beginnt das Problem für Ministerpräsident Viktor Orban. Der Regierungschef versucht, Csurka bei den Parlamentswahlen nicht rechts außen vorbeiziehen zu lassen. Außenpolitische Rücksichten müssen da zurückstehen: So scheute Orban nicht davor zurück, mit einem Sonderausweis für Auslandsungarn und reichlichen Begünstigungen für deren Inhaber die meisten Nachbarländer zu verprellen. Nur ein fulminanter Durchmarsch von Orbans Jungdemokratenbund Fidesz bei den beiden Wahlrunden am Sonntag und am entscheidenderen 21. April kann jedoch den Wiedereinzug der nationalistischen Konkurrenz ins Parlament verhindern.
Bisher ist Orbans Rezept glänzend aufgegangen - getreu dem Motto der äußerst befreundeten CSU: "Neben uns und dem rechten Rand darf nur die Wand sein." Irgendwelcher biografischer Flecken aus kommunistischer Zeit wegen ihrer Jugend unverdächtig, hatten sich die Nachwuchspolitiker der Fidesz zuerst radikal-liberal gegeben. Aus einer unerwarteten Niederlage 1994 zogen Orban und sein Kreis jedoch ihre Schlüsse und begannen konsequent, mit der Fidesz das konservative Lager aufzusaugen. Der Spaltung des unbeständigen Wendezusammenschlusses Ungarisches Forum folgte ein Parteibündnis mit den Christdemokraten. Das Meisterstück war die Koalition mit dem Rechtspopulisten Jozsef Torgyan, dessen Kleinbauernpartei nach vier Jahren gemeinsamer Regierung praktisch aufgerieben wurde.
"Von der Orangen- zur Bananenrepublik" - so beschreiben ungarische Regierungskritiker den Weg, auf den Orbans hungrige Politiker das Land seit ihrem Regierungsantritt 1998 geführt haben. Gewitzt hatten die Jungliberalen in der Wendezeit die "Orange" zu ihrem Symbol erklärt - in Anspielung auf eine populäre Filmsatire, in der der gescheiterte Aufbau einer Orangenplantage in Ungarn zur Parabel für die Mängel der Planwirtschaft wird. Doch längst sehen Orbans Kritiker die Zeiten des Bonzentums zurückgekehrt. Da verschwindet laut Presseberichten auf undurchsichtige Weise Geld beim Verkauf der Fidesz-Parteizentrale. Der Rivalität mit dem Budapester Bürgermeister Gabor Demsky von der gegnerischen SzDSz fiel die staatliche Mitfinanzierung und damit eine vierte U-Bahn-Linie für die Zwei-Millionen-Stadt zum Opfer. Für den Ausbau der Fernstraße von Sekesfehervar in Richtung Graz liefert den Kies zur Fahrbahn-Unterfütterung die Firma von Orbans Vater aus dem familieneigenen Steinbruch. Ein Prozess gegen eine Zeitung, die die undurchsichtige Auftragsvergabe anprangerte, verlief im Sand. "Die Jungs arbeiten wieder im Steinbruch", heißt es seitdem bei Skandalverdacht spöttisch.
Wer "die Jungs" um Orban sind, beschreibt eine Biografie "Der Viktor", die in Ungarn binnen zwei Monaten zum Bestseller wurde. Den inneren Zirkel der heutigen Fidesz-Führung hätten ihre gemeinsamen Konflikte als Studenten, Wehrdienstleistende und Oppositionelle während der Einparteienherrschaft in Ungarn geprägt, lässt Autor Peter Kende den Politologen Laszlo Kery zu Wort kommen. Alle stammen aus der Provinz und haben ihre verschworene Gemeinschaft im Budapester Studentenheim begründet, zieht Kery beim Gespräch in Budapest die Parallelen. Inzwischen hat dieser Kreis um den Premier in der Regierung, mit dem Amt des Parlamentspräsidenten und dem Vorsitz der stärksten Parlamentsfraktion, die einflussreichsten politischen Funktionen im Land besetzt. Seit ihrer Oppositionszeit fühle sich die Gruppe nach Kerys Meinung leicht verraten und sei "paranoid". Inzwischen an der Macht würden sie der Rache an ihren Gegnern selbst den EU-Beitritt Ungarns opfern. Wenn Fidesz im Wahlkampf plakatiere "Wir sind die Zukunft" bedeute dies: "Die Zukunft gehört uns". Um diesen Anspruch zu verteidigen, sei fast jedes Mittel recht. "Sie spielen mit dem Feuer", meint Kery zur Weigerung Orbans, dem Antisemitismus der Miep entschieden entgegenzutreten.
Die Ungarn stehen nach Kerys Analyse am Sonntag wie einst im Kommunismus vor der Wahl, sich durch ihre Stimmabgabe mit den Herrschenden zu arrangieren oder ihrem inneren Aufbegehren Ausdruck zu geben. Die letzten Umfragen, die veröffentlicht werden dürfen, sehen Orbans Fidesz mit mindestens 44 Prozent der Stimmen weit vorn. Die oppositionelle sozialdemokratische MSzP (38 Prozent) und die linksliberale SzDSz (sieben Prozent) hätten diesem Erfolg wegen der Besonderheiten des ungarischen Wahlrechts, das die Stimmenmehrheit im Wahlkreis hoch gewichtet, auch gemeinsam wenig entgegenzusetzen. Auf die Karte des Mehrheitswahlrechts kann auch Csurka setzen, dessen Miep in Umfragen bei vier Prozent liegt. Sollte Orban sein Ziel der Alleinregierung schaffen, ist das für Kery erst der Anfang. "Für die Jungs bedeutet der Weg nichts und das Ziel alles: die Macht."
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Am Wahltag: Ungarn blickt nach Brüssel
Was zur Wahl steht / Von Carola Kaps, Budapest
Mitteleuropa steckt mitten im Wahlkampffieber. Die Ungarn eröffnen den Reigen am 7. April, der zweite Wahlgang folgt zwei Wochen später. In der Tschechischen Republik gehen die Wähler Anfang Juni zu den Urnen; die Slowaken folgen im Herbst. Wirtschaftlich geht es in allen drei zur Spitzengruppe gehörenden Beitrittsländern trotz der globalen Konjunkturflaute recht gut. Sie alle haben sich von der Krise in anderen aufstrebenden Märkten nicht anstecken lassen und der Rezession in Europa und Amerika getrotzt. Mit Wachstumsraten, die im letzten Jahr zwar schwächer, aber noch immer mehr als doppelt so hoch waren wie in Euroland oder den Vereinigten Staaten, konnten sie ihren Aufholprozeß auch in dem ungünstigen internationalen Wirtschaftsklima fortsetzen.
Das politische Bild ist dagegen weit weniger rosig. In allen drei Ländern wackeln die Stühle der Regierungen, haben sie es doch nicht vermocht, wirtschaftlichen Erfolg in ungeteilte politische Zustimmung umzumünzen. Mehr noch: Die Gefahr, daß radikale Parteien den Wahlausgang bestimmen könnten, ist weder in Budapest noch in Bratislava von der Hand zu weisen. Auch in Prag scheinen die Politiker den Ehrgeiz zu haben, das Projekt Europa noch kurz vor dem Zieleinlauf in Frage zu stellen. Durch die Kontroverse über die Benes-Dekrete droht jetzt auch das von jeher fragile Gewebe regionaler Solidarität zu zerreißen. Auf dem Weg nach Europa haben alle mehr denn je nur die eigenen Interessen im Auge; daß Einmütigkeit gerade in den bevorstehenden Verhandlungen über die schwersten Kapitel des "acquis communautaire" viel mehr vermag als der individuelle Wettlauf, scheint vergessen.
Ungarns junger, überaus selbstbewußter Ministerpräsident Orbán trifft an dieser wenig erfreulichen Entwicklung einige Schuld. Mit feinem Gespür für innenpolitische Strömungen hat der brillante und machtbesessene Politiker schon mit dem sogenannten Status-Gesetz für die ungarischen Minderheiten im benachbarten Ausland große Verstimmung in den Hauptstädten Rumäniens, der Slowakei und Serbiens hervorgerufen. Nachdem seine hart zupackende Intervention in Sachen Benes-Dekrete jetzt auch die Regierenden in Prag vor den Kopf gestoßen hat, scheinen die letzten Bauelemente eines gemeinsamen Hauses in Mitteleuropa wieder dem Erdboden gleichgemacht.
Der Wahlkampf mag Orbáns Taktik zwar erklären, einen Preis für Staatskunst und Diplomatie wird er dafür aber wohl kaum erringen. Des kurzfristigen Gewinns wegen hat er nachbarschaftliche Beziehungen nicht nur sorglos in Frage gestellt. Ohne auf die nationalen Empfindlichkeiten in Prag, Bukarest, Belgrad, Preßburg oder auch Warschau Rücksicht zu nehmen, hat die Regierung Orbán auch wichtiges Vertrauenskapital auf Dauer beschädigt.
Was steckt dahinter? Versucht hier eine Regierung, die mit dem Rücken an der Wand steht, mit allen Mitteln an der Macht zu bleiben? In der Tat liefern sich Orbán und sein Herausforderer Péter Medgyessy von der Sozialistischen Partei (MSZP) ein Kopf-an-Kopf-Rennen, dessen Ausgang wenige Tage vor dem ersten Wahlgang noch völlig offen ist. Vertraut man den Umfragen, so haben der national-konservative Orbán und seine Jungen Demokraten (FIDESZ) einen leichten Vorteil vor allem bei den jungen Wählern; im Stimmungsbarometer der Wirtschaft hat Medgyessy die Nase vorn, ebenso bei vielen Intellektuellen. Die Wählerschaft ist gespalten, viele sind noch unentschlossen. Kleine Parteien werden letztlich wohl das Zünglein an der Waage spielen.
Dabei gilt Ungarn wirtschaftlich gesehen unter den Beitrittskandidaten als Spitzenreiter und als Modell für eine vorbildliche marktwirtschaftliche Transformation. Die ökonomischen Grunddaten stimmen, Auslandskapital fließt nach wie vor ins Land. Multinationale Unternehmen schätzen den Standort, einige verlegen bereits ihre Forschungs- und Entwicklungsabteilungen an die Donau, wieder andere bauen in Ungarn ihre regionale Kommandozentrale auf. Die Regierung selbst fördert im Rahmen des langfristigen Széchenyi-Planes inzwischen auch die Klein- und Mittelindustrie mit dem Ziel, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der ungarischen Industrie zu stärken und das Qualitätsgefälle zu den Betrieben mit ausländischem Kapital zu schließen. Letzteres geschieht unter den Schlagworten "ökonomischer Patriotismus" und "Aufbau ungarischer regionaler Multis".
Nicht was ist, sondern was hätte sein können, erklärt die Unzufriedenheit mit Orbán. So ist in den vier wirtschaftlich guten Jahren seit 1998 nicht eine einzige Reform eingeleitet worden, obschon es erhebliche Defizite auf dem Gebiet des Gesundheitswesens, der Erziehung, des öffentlichen Dienstes, der Landwirtschaft oder auch der Dezentralisierung der Verwaltung gibt. Bei dem fortschrittlichen Multi-Säulen-Pensionssystem wurde das Rad sogar wieder zurückgedreht. Die Transparenz öffentlicher Wirtschaftsentscheidungen ist nicht größer, sondern geringer geworden. Die politische Einflußnahme auf Wirtschaftsentscheidungen hat zugenommen, ebenso wie die Renationalisierung von Betrieben, die als strategisch wichtig gelten. Die Steuern sind zu hoch, die soziale Abgabenlast ist erdrückend. Mehr und mehr Arbeitnehmer suchen den Ausweg in der Scheinselbständigkeit.
Alles in allem: Die Wirtschaft ist besorgt, und so mancher Unternehmer hofft in dem farblosen, aber kompetenten Bankier Medgyessy den richtigen Verbündeten zu finden. Dieser verspricht für die Zukunft keine Utopien, aber immerhin mehr Transparenz, höhere öffentliche Investitionen, niedrigere Steuern, Rechtssicherheit, eine solide Geld- und Fiskalpolitik und eine insgesamt berechenbare Wirtschaftspolitik. Für die Erfüllung der Maastricht-Kriterien will sich Medgyessy viel Zeit lassen. Ob all dies im Falle eines Wahlsieges auch umgesetzt wird, steht - wie immer - auf einem anderen Blatt. Was nun Europa betrifft, braucht man sich keine Sorgen zu machen. Ob Orbán oder Medgyessy, beide haben Brüssel fest im Blick.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.04.2002, Nr. 78 / Seite 11
Die Presse (Wien)
Erfolgreiches Spiel mit der nationalen Karte
Viktor Orbán will weitere vier Jahre regieren
Ungarns Politik wurde in den vergangenen vier Jahren ganz maßgeblich von den Rechtsliberalen geprägt. Nun strebt Fidesz-MPP auf weitere vier Regierungsjahre zu - möglicherweise sogar mit Hilfe der radikalen Rechten.
Aus Budapest berichtet unser Korrespondent PETER BOGNAR
Mit einem Knalleffekt endete die ungarische Parlamentswahl 1998: Allen Prognosen der Meinungsforschungsinstitute zum Trotz war nicht die Ungarische Sozialistische Partei (MSZP) als Sieger aus dem Urnengang hervorgegangen, sondern der Bund der Jungdemokraten-Ungarische Bürgerpartei (Fidesz-MPP).
Anfang der neunziger Jahre noch ein Sammelbecken ungestümer liberaler Jungpolitiker, wandelte sich die Partei im Verlauf der neunziger Jahre - nicht zuletzt aus strategischen Erwägungen - nach und nach zu einer national-konservativen Kraft. Nach dem überraschenden Wahlsieg 1998 bildeten die Jungdemokraten mit dem Ungarischen Demokratischen Forum (MDF) und der Unabhängigen Kleinlandwirtepartei (FKGP) eine Koalition der bürgerlich-konservativen Kräfte. Der damals 38jährige Viktor Orbán wurde Ministerpräsident.
Bruch mit der früheren Budapester Konsenspolitik
Unter dem Motto "Mehr als ein Regierungswechsel, weniger als ein Systemwechsel" brach die Fidesz-MPP-Regierung abrupt mit der bis dahin vorherrschenden Konsenspolitik ihrer Vorgänger und setzte sukzessive ihr eigenes Demokratieverständnis in die Realität um. So schränkte sie unter anderem den Handlungsspielraum des Parlaments ein, das seitdem nur noch alle drei Wochen tagt; blockierte mit ihrer Parlamentsmehrheit die Aufstellung von Untersuchungsausschüssen und weitete die gestalterischen Kompetenzen des Ministerpräsidenten sukzessive aus.
Nach ihrem Regierungsantritt ging Fidesz-MPP auch umgehend daran, die eigene Machtbasis durch Besetzung von Schlüsselpositionen im Staatsapparat auszubauen. Ihr Bestreben war es, die zersplitterten Kräfte des national-konservativen Lagers zu einer Einheit zu schmieden und damit einen Gegenpol zum kompakten links-liberalen Block von MSZP und dem Bund der Freidemokraten (SZDSZ) zu schaffen. Deshalb mußte sie sowohl die ihr nahestehenden Wählerschichten als auch die ideologisch gleichgesinnten Parteien integrieren.
So gelang Fidesz-MPP nicht nur, das Ungarische Demokratische Forum in die eigenen Parteistrukturen zu verschmelzen, sondern auch die Reste der Kleinlandwirtepartei. Die FKGP hatte sich durch zahlreiche Korruptionsaffären und die Inkompetenz ihrer Minister selbst in eine schwere Krise manövriert und zerfiel schließlich in mehrere Splitterparteien.
Die von der Fidesz-MPP angestoßene Homogenisierung des rechten Lagers führte zu einer scharfen politischen Polarisierung der ungarischen Gesellschaft. Gleichzeitig steuerte die Politik des Landes auf ein Zweiparteiensystem hin.
Wesentliches Kennzeichen der Fidesz-MPP-Regierung war in der vergangenen Legislaturperiode eine bisweilen nationalistisch angehauchte Außenpolitik. Die zum Teil offensiv vorangetriebene Unterstützung der in den Nachbarländern lebenden rund 3,5 Millionen "Auslandsungarn" zählte zu den obersten Prioritäten der Jungdemokraten.
Ein Ausfluß dieser Politik ist das Anfang dieses Jahres in Kraft getretene "Statusgesetz", das den im Ausland lebenden ungarischen Minderheiten zahlreiche Vergünstigungen im Mutterland Ungarn einräumt. Orbán und seine Regierung nahmen dabei sogar erhebliche Spannungen mit den Nachbarstaaten in Kauf.
Auch in der Wirtschaftspolitik wurde das nationale Element in den Vordergrund gestellt. Der "Wirtschaftspatriotismus" wurde zum geflügelten Wort. Dieser zielte nicht zuletzt darauf ab, ungarischen Betrieben mit staatlichen Aufträgen unter die Arme zu greifen. Das ging allerdings vielfach mit dem Verzicht auf öffentliche Ausschreibungen und mithin der Benachteiligung ausländischer Unternehmen einher. Neben dem Wirtschaftspatriotismus huldigte die Fidesz-MPP-Regierung auch dem Staatsinterventionismus und mischte sich wiederholt in das wirtschaftliche Geschehen ein.
Allerdings kann die Orbán-Regierung auf einige bemerkenswerte wirtschaftspolitische Erfolge verweisen. Das Wirtschaftswachstum lag im Vier-Jahres-Durchschnitt bei rund fünf Prozent; die Arbeitslosigkeit fiel von rund neun auf knapp sechs Prozent; die Inflation konnte von 16 Prozent auf etwa sieben Prozent gesenkt werden; die Reallöhne stiegen um mehr als 17 Prozent und der Mindestlohn wurde mehr als verdoppelt.
Die national angehauchte Politik war Teil einer wohldurchdachten Strategie. Ihr Ziel war die Vermehrung des konservativen Wählerpotentials. So bemühten sich die Jungdemokraten einerseits, die eigene gemäßigte Klientel bei der Stange zu halten, buhlten aber zugleich unverhohlen um die Gunst der Wähler der ultrarechten Partei der Wahrheit und des Lebens (MIÉP).
Dieser politische Spagat wurde nicht zuletzt durch den Vorsitzenden der Partei, Zoltan Pokorni, und dessen Stellvertreter Laszlo Köver verkörpert. Der bedachtsame Pokorni wendet sich vor allem an die christlich-bürgerlichen Wähler, wogegen der populistische Köver Signale an die radikal gesinnte Wählerschaft der MIÉP aussendet.
Vor diesem Hintergrund versprechen die bevorstehenden Wahlen gleichsam zur demokratischen Feuerprobe für die Fidesz-MPP zu werden. Verfehlen die Jungdemokraten nämlich die absolute Mehrheit im Parlament, sind sie auf einen Koalitionspartner angewiesen.
Der Vorsitzende der MIÉP, István Csurka, hat sich in den vergangenen Wochen schon wiederholt als potentieller Partner für eine Koalitionsregierung ins Spiel gebracht. Bisher haben führende Regierungspolitiker diesbezügliche Überlegungen beharrlich dementiert. Beobachter schließen aber nicht aus, daß die Jungdemokraten im "Notfall" um des Machterhalts willen sogar ihre Prinzipien über Bord werfen könnten.
Verstärkt wird diese Vorstellung auch durch die bisher nur halbherzig vollzogene Abgrenzung der Partei von der MIÉP. Vielen ist noch ein Interview mit Ministerpräsident Orbán in Erinnerung, in dem er auf die Frage nach einer Koalition seiner Partei mit der radikalen Rechten die Antwort gab, daß er "nichts" ausschließe.
Medienstar Orbán contra hölzernen Medgyessy
Für die Wahlen hat die Fidesz-MPP in der Person Viktor Orbáns den größten Trumpf in der Hand. Der charismatische und telegene Orbán versteht es wie kein anderer Politiker in Ungarn, sich in den Medien zu profilieren.
Auf diesem Feld überflügelt er seinen härtesten Widersacher bei dieser Wahl, den Spitzenkandidaten der oppositionellen MSZP, Peter Medgyessy, bei weitem. Medgyessy wirkt im Gegensatz zum schlagfertigen und agilen Orbán in öffentlichen Auftritten hölzern und ungelenk. Seine Botschaften sind oftmals hausbacken und abstrakt.
Angesichts der großen Zahl unentschlossener Wähler - rund 30 Prozent der wahlberechtigten Bürger in Ungarn haben sich bisher noch nicht entschieden, für wen sie ihre Stimme abgeben werden - könnte letztlich gerade dieser Unterschied im Image der Spitzenkandidaten das Wahlpendel zugunsten von Fidesz-MPP ausschlagen lassen.
Die Parlamentswahlen werden in Ungarn in zwei Runden abgehalten. Der erste Durchgang findet diesen Sonntag, der zweite am 21. April statt. Letzten Umfragen zufolge hat die Fidesz-MPP einen komfortablen Vorsprung vor der MSZP.
Der Tagesspiegel (Berlin)
Ein Land, zwei Welten
Ungarn vor der Wahl: Die Fassade des reichsten EU-Anwärters glitzert - dahinter sieht es trauriger aus
Paul Kreiner
Was den Wählern in Ungarn am stärksten auf den Nägeln brennt? Der junge Kandidat überlegt. Er überlegt lange. Zuvor war es nur so aus ihm herausgesprudelt, was er alles für "seinen" Stadtbezirk geleistet hat in den letzten vier Jahren im Parlament: die Prostituierten hinausgejagt, mit Videoüberwachung die Organisierte Kriminalität bekämpft, mit dem Bau von 1600 Wohnungen angefangen ... Er hat Viktor Orban gerühmt, seinen Ministerpräsidenten, als eine die Gesellschaft zwar polarisierende, aber starke Figur mit Charisma. Doch nun sitzt Robert Juharos in diesem Kaffeehaus und überlegt. "Nun", sagt er schließlich, "die eigene Tasche ist den Leuten noch am nächsten. Sie interessieren sich, wie es mit ihren Löhnen weitergeht und mit ihrer Rente."
Budapests VIII. Bezirk, die Josefstadt, in der Juharos bei der Parlamentswahl am Sonntag wiedergewählt werden will, gilt als ärmster Bezirk der Hauptstadt. Von den schmutzig-schwarzen Mietskasernen, die im Boom Ende des 19. Jahrhunderts gebaut wurden, springt der Putz. Saniert wurde zu kommunistischen Zeiten nicht. Stattdessen wurden zehnstöckige Plattenbauten hochgezogen. Die Mieten sind niedrig, der Bezirk ist überaltert; ein Viertel der 78 000 Einwohner sind Roma. Doch am innenstadtnahen Rand des Bezirks sieht es anders aus. Dort sind die Straßen gepflegt, die historischen Paläste prächtig herausgeputzt. Hier prangt der neue Boom.
Genauso gespalten, heißt es in Ungarn, ist das Land. Viktor Orbans rechtsbürgerliche Regierung wirbt mit der Statistik: Das Bruttoinlandsprodukt ist stärker gewachsen als in der EU und wächst, von ausländischen Konzernen getragen, fröhlich weiter. Die Inflationsrate liegt im einstelligen Bereich, die Arbeitslosenquote ist niedriger als in Deutschland. Ungarn gilt als reichster Anwärter auf die EU-Mitgliedschaft. Doch die Statistik mittelt gnädig zwischen der Vollbeschäftigung im Westen und den 20 Prozent Arbeitslosen im Osten, zwischen den jungen Bankangestellten in den Glaspalästen und den gebückten Handwerkern in den Souterrains der Josefstadt. Deren Bürgermeister Bela Csecsei gehört als Freidemokrat zu Orbans Gegnern. Er beklagt, wie alle Oppositionellen in Ungarn, dass die Regierung Orban die wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Spaltung des Landes gefördert habe. Csecsei sagt, es herrsche die "Stimmung eines mentalen Bürgerkriegs".
Gespalten ist auch die Wählermeinung: Orbans Bürgerliche (Fidesz) und die Sozialisten haben mit je 40 Prozent gleich viele Anhänger. Der Unterschied zwischen den durch Orbans Politik verfestigten Lagern beträgt laut dem Politologen Laszlo Keri weniger als 100 000 Stimmen - was kaum Prognosen über den Wahlausgang erlaubt. Keri interessiert sich weniger dafür, wer bei der Wahl am 7. und 21. April siegt, sondern wer drittstärkste Kraft wird: "Das wird zeigen, wohin das Land geht." Zur Wahl stehen die Liberalen, die derzeit zum linken Lager zählen und - falls nötig - mit den Sozialisten paktieren werden, und die "Partei der Ungarischen Wahrheit und des Lebens" (Miep), die sich als radikal-national definiert, aber rechtsextremistisch und antisemitisch ist. Die Miep träumt von der Revision der Grenzen und der "Wiedervereinigung der ungarischen Nation". Seit 82 Jahren würden die drei Millionen Magyaren in den Nachbarländern, zumeist Rumänien, unterdrückt, sagt Vize-Parteichef Csaba Lentner. Beobachter fürchten, Orban könnte sich nach seiner Wiederwahl mit der Miep zusammentun.
DER STANDARD (Wien)
Donnerstag, 4. April 2002, Seite 5
Rechte Macht über Ungarns Medien
Im diskreten Zusammenspiel mit der rechtsextremen MIÉP-Partei gelang es den Jungdemokraten von Premier Viktor Orbán, die Alleinherrschaft über die Kuratorien der öffentlich-rechtlichen Medien zu erringen.
Gregor Mayer aus Budapest
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán betrachtete in den vier Jahren seiner Regierung die rechtsextreme "Ungarische Wahrheits- und Lebenspartei" (MIÉP) von István Csurka als stillen taktischen Partner.
Orbán findet nichts dabei, den Redaktionen der MIÉP-nahen Radiosendung "Vasárnapi Újság" und des mit der MIÉP sympathisierenden Wochenblattes Magyar Demokrata freundschaftliche Besuche abzustatten. Mit dem Herannahen der Parlamentswahlen gingen der Ministerpräsident und andere Fidesz-Spitzenpolitiker dazu über, ihre nationalistische und rechtsideologische Rhetorik zu verschärfen.
Die MIÉP ist nun eher stiller Konkurrent, dem es die Wähler abzuwerben gilt. Dafür, dass die Übergänge zwischen der Regierungspartei Fidesz und MIÉP offen, die Unterschiede unscharf und das Oszillieren zwischen Partnerschaft und Rivalität regulierbar bleibt, sorgt ein rechts-rechtes Medienkommando. Seine Angehörigen sind eindeutig weder dem Fidesz noch der MIÉP zuzuordnen. Sie verteidigen die Regierung Orbán mit Zähnen und Klauen gegen die heimische linksliberale Journaille und die Auslandspresse, und sie verlieren kein Wort der Kritik am Antisemitismus und Irredentismus des MIÉP-Führers István Csurka.
Dieses Medienkommando hat in den letzten vier Jahren strategische Positionen in der ungarischen Medienszenerie erobert. Die von Fidesz-Verlagsmanagern gesteuerte Fusion der bürgerlichen Traditionszeitung Magyar Nemzet mit der Rechtsaußen-Kampfpostille Napi Magyarország ließ deren Ungeist von ersterer völlig Besitz ergreifen.
Von Napi Magyarország kam István Lovas, ein nach der Wende aus dem Westen zurückgekehrter "Free Europe"-Journalist, zu Magyar Nemzet, wo er eine tägliche Kolumne hat und jederzeit Platz für seine "medienkritischen" Ergüsse - Geißelung der angeblichen Doppelstandards der globalen Medien - erhält. Eine Zeit lang galt Lovas als Berater von Orbán. Immer wieder tritt er auch in der MIÉP-nahen Radiosendung "Vasárnapi Újság" auf. An der katholischen Pázmány-Universität leitet er Lehrgänge.
Die wöchentliche Blutwiese für das Medienkommando ist aber der von Lovas moderierte "Presseklub" im Privat-TV-Sender "ATV". Regelmäßige Teilnehmer sind der Brachial-Publizist Zsolt Bayer, der einen Leitungsposten beim staatlichen "Duna TV" innehat, András Bencsik, der Chefredakteur des Magyar Demokrata, und die beim Staatsfernsehen tätige Reporterin Judit Járai. Jeden Freitagabend geht es da so richtig zur Sache. Zsolt Bayer lässt schon gerne einmal die "Kommunisten" - darunter fallen natürlich alle sozialistischen oder liberalen Oppositionellen - verbal "an den Laternen baumeln".
Wie am MIÉP-Stammtisch ist der Antisemitismus eine Erfindung der Juden, "angeheizt von gewissen jüdischen Mitbürgern, die ihr Judentum als Einkommensquelle betrachten, . . . von hysterischen Banditen" (O-Ton Bayer).
"Eine draufgekriegt"
Lovas wiederum empfahl als Abhilfe gegen die Ungarn vernadernden ausländischen Journalisten "eine kleine Kastration". Nach dem Terroranschlag vom 11. September schilderte Bayer, wie er die ersten Fernsehbilder des brennenden World Trade Centers aufnahm: "Ich fühlte mich nicht geschockt, vielmehr sah ich mit einer gewissen Befriedigung hin: Jetzt haben sie eine draufgekriegt!"
Als dann das erste Interview von Osama Bin Laden gesendet wurde, sah er in ihm "eine irgendwie unglaublich charismatische Erscheinung", spürte er "eine irgendwie unglaublich überzeugende Kraft, die dieser Mann ausstrahlt". Das war dann der Punkt, an der die sonst stets verbissen und säuerlich wirkende Frau Járai aufblühte: "Ja, wirklich ein gut aussehender Mann. Er hat warme, braune Augen."